2. Don't Forget

"Was?! Du kannst nicht gehen!", kreischte Kelly und klammerte sich an mich.
Ich würde dieses aufbrausende Bündel an purer Lebensfreude vermissen. Jetzt kullerten meiner besten Freundin jedoch dicke Tränen aus den Augen und sie bat mich immer wieder ihr doch zu sagen, dass sie Unrecht hatte, wenn sie sagte ich würde gehen.
"Es tut mir Leid, Kelly. Aber ich kann da nicht länger bleiben."
"Ich weiß und ich bin auch froh, dass du da raus kommst, aber ..." Ein heftiges Schluchzen unterbrach sie kurz. "ich will dich nicht verlieren. Du bist doch meine beste Freundin, was soll ich denn ohne dich machen?"
Wieder fiel sie mir um den Hals und ich strich ihr beruhigend über den Rücken. Hatte ich vielleicht doch die falsche Entscheidung getroffen?
"Uh-Uh. Nein Lia, ich kenne den Gesichtsausdruck, denk jetzt bloß nicht, du solltest unseretwegen dort bleiben. Du hast etwas besseres verdient. Wir kommen hier schon klar. Wir haben bald alle unseren Abschluss. Wir werden uns wieder sehen. Wir halten Kontakt übers Telefon und übers Internet und besuchen können wir uns auch immer noch, alles klar?", bemerkte Kevin grinsend.
Ich lächelte ihn dankbar an und sah in die Runde. Alle lächelten sie mich an. Zum Teil froh für mich, dass ich weg von Ann, Carl und dem 'Schlägertrupp' kam. Zum Teil traurig, weil ich die Stadt verlassen würde und wir uns eine ganze Weile nicht sehen würden.
"Ich hab euch gar nicht verdient", schluchzte ich.
Ich war kein Mädchen das weinte, wirklich, ich weinte eigentlich nie. Auch jetzt rann keine Träne meine Wange hinunter, ich war stark genug, nur zu schluchzen. Aber meine Freunde wussten, dass wenn ich schluchzte, ich wirklich traurig war. In den ganzen fünf Jahren die wir uns kannten habe ich nie auch nur eine Miene verzogen, habe nie geweint, nie aufgeschluchzt, nichts. Ich habe miterlebt, wie Ricky sämtliche Tiere weggestorben sind, wie Kevins Großmutter starb, keine Tränen. In den fünf Jahren hatte ich mir mehrere schwere Verletzungen zugezogen, mir wurden viele Wunden zugefügt und manche davon waren tödlich gewesen und mit viel Schmerz verbunden. Keine Tränen, kein Schluchzen. Aber jetzt konnte ich nicht anders. Jetzt musste es raus und meine Freunde mussten sehen, wie viel sie mir wirklich bedeuteten.
Ich weiß zwar nicht wie, aber irgendwie landeten wir alle in einer großen Gruppenumarmung. Kelly heulte Rotz und Wasser. Ricky schniefte. Kevin rollte eine einzelne Träne die Wange hinunter und Kendall, dem sah man seine Trauer nur an den Augen an. Sie waren mit Tränen gefüllt, aber wie ich, erlaubte er keiner sein Auge zu verlassen. Er blieb stark, stärker als wir alle.
Die Nachricht, dass die mysteriöse Frau im Anzug einen Schüler abholen würde war wie ein Laubfeuer durch die Schule gejagt. Dass besagter Schüler nun ich war, verbreitete sich noch schneller. Schon während der dritten Stunde wusste die gesamte Schule Bescheid.
In jedem Unterricht wurde ich von Schülern gefragt, wer die Frau war, was sie wollte, ob ich wirklich die Schule verlassen würde, wohin ich gehen würde und und und. auch die Lehrer erkundigten sich, ob die Gerüchte stimmten.
Das Mittagessen kam viel zu schnell. Ich blieb bis zum Schluss noch im Klassenraum, in der Hoffnung, die zeit würde mit mir stehen bleiben, aber das tat sie nicht. Langsam trottete ich durch die Gänge in die Mensa. Ich versuchte mir jedes Detail dieser Schule einzuprägen. Sicher war diese Schule nicht die Schönste und ich hatte auch viele schlechte Erinnerungen an sie, aber dennoch hatte ich die letzten fünf Jahre meines Lebens zum Großteil hier verbracht. In der Mensa nahm ich mir heute nichts zu essen, ich würde sowieso nichts runter bekommen Stattdessen nahm ich mir nur eine Flasche Wasser und begab mich zu meinen Freunden. Die sonst immer völlig ausreichenden fünfzig Minuten verflogen diese Pause, als wären sie nur Sekunden. Wir sprachen über all die lustigen Dinge die wir zusammen unternommen hatte. Kevin gab sogar eine Kostprobe seiner Karaokekünste. Es war so angenehm, so fröhlich und glückselig, dass man gar nicht mitbekam wie die Zeit verflog. Doch dann ertönte die Klingel und wir alle wurden still.
"Wo trefft ihr euch?", fragte Kendall.
"Auf dem Parkplatz."
"Na dann los", meinte er und stand auf.
"Ihr könnt nicht mitkommen, ihr habt Unterricht", widersprach ich.
"Den Unterricht haben wir auch morgen noch, der läuft uns nicht weg. Du schon."
Traurig seufzte ich. Gemeinsam gingen wir fünf auf den Parkplatz zu. Dort stand einer rabenschwarzer, glänzender SUV mit Kalia davor. Sie lächelte mich an und wartete geduldig, bis wir fünf vor ihr standen.
"Bist du bereit?", fragte sie mich.
Nein, antwortete ich automatisch in meinem Kopf. Nein, ich war nicht bereit.
"Verabschiede dich, Rose", bat Kalia.
Sie umrundete das Fahrzeug und stieg auf der Fahrerseite ein. Die Scheiben waren getönt, sodass ich nur einen Schatten im Inneren des Autos ausmachen konnte.
"Ich werde dich so vermissen!", rief Kelly und fiel mir um den Hals.
Wieder schossen dicke Tränen aus ihren Augen und sie schluchzte unaufhaltsam.
"Ich werde dich auch vermissen. Du warst meine erste Freundin hier. Ich werde dich nie, niemals vergessen, hörst du? Und egal wie weit wir auch voneinander getrennt sein mögen, du wirst immer meine Freundin sein."
Schluchzend löste sich Kelly von mir und trat zurück. Ricky versuchte ihre Tränen zurück zu halten, aber eine schaffte es zu entwischen und ihre Wange hinab zu laufen.
"Ich werde dich vermissen", nuschelte Ricky.
Sie war nicht so der Typ für Umarmungen, aber das war mir jetzt egal. Ich schlang die Arme um sie und drückte sie fürs vorerst letzte Mal eng an mich und auch sie schlang ihre Arme um meine Mitte.
"Ricky, du wirst mir so unwahrscheinlich fehlen!"
Sie lachte freudlos auf.
"Das sagst du jetzt."
Immer zu Scherzen aufgelegt, die Gute. Ich verdrehte die Augen und ließ von ihr ab. Sie nickte mir mit einem halben Lächeln noch einmal zu und gesellte sich dann zu Kelly. Kelly klammerte sich sofort an Rickys Seite. 
"Lia", seufzte Kevin. "Ich werde dich nie vergessen können."
Auch er schlang seine Arme um mich. Ich versteckte mein Gesicht an seiner Brust und atmete tief ein. Er roch nach seinem Deo, nach dem Wald hinter seinem Haus und Salbei. So kannte ich ihn, so liebte ich ihn.
"Ich werde dich vermissen, big Bro", schluchzte ich.
Kevin und Kendall waren beide immer wie Brüder für mich gewesen. Kevin mehr als Kendall. 
"Pass auf dich auf, ja? Und wenn dir irgendeiner dumm kommt, du hast meine Nummer."
Und bei Kevin war das kein Spruch und auch kein Scherz. Er meinte das ernst, jedes Wort. Ich lächelte ihn dankbar an und er machte Platz für seinen Zwillingsbruder. Kendall stand einfach nur da. Hände in den Hosentaschen, eine Trauermiene im Gesicht. Traurige Augen aus denen er mich an sah.
"Jetzt nimm mich endlich in den Arm", schluchzte und lachte ich zugleich.
Ein halbes Grinsen huschte über sein Gesicht und seine Armen schlangen sich um mich. Ich atmete Kendalls Geruch ein. Ich wollte ihn nicht vergessen, wollte keinen meiner Freunde je vergessen! Ich musste sie in Erinnerung behalten, für immer. Kevin war immer mein großer Bruder gewesen. Kendall nicht. Bei ihm hatte ich mir immer erhofft es könnte mehr werden, aber dazu ist es nie gekommen.
"Vergiss mich nicht", schluchzte ich.
"Könnte ich nicht."
"Versprochen?"
"Versprochen."
Er strich mir mit der Hand übers Haar.
"Denk an uns, ja? Und vergiss nicht uns zu schreiben, uns zu mailen, anzurufen. Bitte, lass einfach von dir hören, ja?"
Er klang so besorgt, so verdammt ängstlich, dass mir eine Träne entwich. Diese eine Träne ließ ich gewähren. Sie lief meine Wange hinab direkt in sein T-Shirt. Ich stellte mir vor, wie diese Träne für immer bei ihm bleiben würde. Wie er für immer einen Teil von mir bei sich haben würde.
"Du musst gehen.", stellte Kendall fest.
Mit einem letzten Schluchzen löste ich mich von ihm. Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und küsste Kendall, nur ganz leicht, auf den Mund.
"Brich dein Versprechen nicht. Denk an mich", flüsterte ich.
Damit drehte ich mich um und öffnete die Tür des SUVs. Mit einem letzten Blick auf meine Freunde stieg ich ein. Nachdem die Tür zugeknallt war, ließ ich sofort das Fenster runter surren, um meinen Freunden zu winken. Voller Trauer standen sie dort auf dem Parkplatz. Voller Trauer saß ich hier im Auto. Ich hob meine Hand und winkte leicht. Der Motor erwachte zum Leben und Kalia parkte aus. Sie winkten mir und ich winkte schluchzend zurück. Dann fuhr der SUV um eine Kurve und sie waren weg.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen