1. Goodbye

Es war kalt. Ich konnte meinen Atem in kleinen weißen Wolken sehen. Nebel hing über den gefrorenen Grashalmen. Man konnte nicht weit sehen, dafür war er zu dicht. Meine Laufstrecke kannte ich wie meine Westentasche. Die schlechte Sicht machte mir nichts aus. Ich lief durch den Wald wie jeden Morgen. Die Luft war feucht, dass machte es nicht gerade angenehm, aber ich hatte mich daran gewöhnt. So war das im Winter. 
Ich kam an meine übliche Biegung. Durch die eingeschränkte Sicht hätte ich sie beinahe verpasst, aber ich bemerkte sie noch rechtzeitig. Rechts würde es weiter in den Wald hinein führen, bis zu einer kleinen verlassenen Hütte. Dort bin ich schon oft gewesen. Es war ein schöner, ruhiger Platz zum nachdenken. Dort konnte ich mir Ruhe und Frieden verschaffen, Abstand von der Welt nehmen. Nach links würde es noch ein wenig Wald geben, dann an eine kleine Häusersiedlung gründen. In dieser Häusersiedlung wohnte ich. Meine Füße trugen mich um die Biegung und machten sich auf den Weg nach Hause.
Als ich in der Siedlung ankam, wirkte sie wie ausgestorben. Keine Menschenseele war dort zu sehen, in keinem der Häuser brannte Licht. Der Nebel verflüchtigte sich allmählich und die Sonne begann aufzugehen. Sehr langsam, beinahe zaghaft kroch sie hinter den Bäumen des Waldes empor.
Ich lief das letzte Stück leise bis zu dem Haus, in dem ich wohnte. So leise wie möglich öffnete ich die Tür und schlüpfte hinein. Drinnen sah alles wie immer aus. Unaufgeräumt, ungemütlich, grau.
Seufzend zog ich mir Schuhe und Jacke aus. In der Küche nahm ich mir eine Flasche Wasser und leerte sie mit schnellen, langen Zügen. In der Spüle stand noch immer das Geschirr vom Vortag. Ich nahm mir vor, erst duschen zu gehen und mich dann darum zu kümmern.
Auf dem Weg nach oben achtete ich besonders darauf auf keine Stufe zu treten, die quietschte, um die anderen in Ruhe schlafen zu lassen. Beinahe jede Stufe der Treppe gab irgendeine Art von Geräusch von sich, also war das schwieriger als gedacht, aber es gelang mir. Ich suchte mir schnell ein paar Klamotten zusammen und verschwand dann im Bad. Ich schälte mich aus meinen Sportsachen und stellte mich unter den heißen Strahl der Dusche. Es war mir nicht vergönnt lange unter dem warmen Wasser zu stehen. Dafür hatten wir nicht genug. Die Zeit reichte nicht annähernd um meine eingefrorenen Glieder wieder zu erwärmen, aber gerade genug um mich und meine Haare zu waschen, bevor der Rest ankam.
Als ich aus der Dusche stieg und mir ein großes Handtuch um den Körper schlang konnte ich Geräusche im Haus hören. Ein paar der anderen waren aufgewacht.
Schnell trocknete ich mich ab und zog mich an. Mit immer noch nassen Haaren lief ich die Treppen wieder hinunter und begab mich in die Küche.
Ich war mit Frühstück dran, aber bevor ich das machen konnte, musste ich erst das übrig gebliebene Geschirr spülen. Da beschweren hier nichts brachte, schluckte ich meinen Ärger hinunter und übernahm die Arbeit, die nicht für mich bestimmt gewesen war.
Das Geschirr war schnell gespült und ich ließ es an der Luft trocknen. Währenddessen bereitete ich das Frühstück vor. Ich schnitt das Brot in Scheiben, den Käse, die Wurst. Stellte alles au den Tisch. Schälte ein paar Äpfel und Birnen. 
Von oben hörte ich die anderen streiten und motzen. So ging das jeden Tag, wieso sollte es heute anders sein? Die Erste die es nach unten schaffte war Melanie. 
Melanie war älter als ich und wir waren ungefähr gleich groß. Sie vielleicht ein oder zwei Zentimeter größer als ich. Sie hatte schwarze Haare und rehbraune Augen. Ihre Haut war sehr blass, dafür aber sehr schön. Auf ihren Oberarmen konnte man ein paar neue blaue Flecken ausmachen. Ich war gestern Abend zum Glück nicht zu Hause gewesen, Carl hatte uns mal wieder besucht. Ich wollte gar nicht wissen, wie die anderen aussahen. 
Carl war eigentlich einer unser zwei Betreuer. Er kam aber nur alle drei Monate. Bei jedem Besuch nahm er sich eine oder einen von uns vor. Er vergewaltigte einen von uns. Als ich herkam war ich eine der 'Glücklichen', ich war schon zu 'alt' für Carl gewesen. Carl vergriff sich nur an Kindern, die höchsten zehn waren. Die anderen von uns verprügelte er. Mit Füßen und Händen, manchmal mit seinem Gürtel, einem Baseballschläger oder auch einem Messer. Jeder von uns hatte da schon durch gemusst Allerdings war ich die Einzige, bei der er mehr als seine Fäuste gebrauchte. Ich war die Einzige die sich je gegen ihn gewehrt hat und es teilweise immer noch tat. Deshalb bevorzugte er bei mir einen Schläger oder gleich ein Messer. Es war nicht gerade selten, dass ich auf der Intensivstation landete. 
Aber egal was wir unternahmen, er kam damit durch. Sobald die Jungen hier älter wurden, wurden sie wie Carl. Umso schlimmer wurde es für den Rest von uns. Wir hatten alle drei Monate mit Carl zu rechnen. Wann Kyle oder Paul kamen, wusste keiner. Sie wohnten immer noch hier und nahmen sich wen sie wollten, um zu bekommen was sie wollten, wann sie wollten. Sie waren aber klug genug sich von mir fernzuhalten. In einem halbwegs fairen Kampf würde ich gegen beide gewinnen. Deshalb taten sie nichts, solange ich hier war.
"Du hast schon wieder das ganze warme Wasser verbraucht", nörgelte Melanie.
"Dir auch einen guten Morgen", murmelte ich.
Ich beachtete den schnippischen Kommentar nicht und schälte weiter meinen Apfel. Melanie ließ sich auf einen der Stühle fallen und nahm sich etwas Saft. Ich stellte die restlichen Lebensmittel fürs Frühstück auf den Tisch. Dann nahm ich mir ein Handtuch und trocknete das restliche Geschirr ab. Ich stand mit dem Rücken zum Tisch und achtete nicht besonders auf Melanie. Als die anderen kamen und sich setzten machten sie sich gleich ans essen. Bei uns wartete keiner bis alle da waren. Schließlich war ich fertig und setzte mich an den beinahe vollen Tisch. Abgesehen von Christopher, Felix und mir waren anscheinend alle gestern Abend zu Hause gewesen. Alle anderen hatten neue blaue Flecken, Kratzer im Gesicht oder an Armen und Beinen. Sie sahen wirklich schlimm aus und ich war froh gestern nicht zu Hause gewesen zu sein. 
Mindestens zwei Drittel des Essens war schon vertilgt worden und das in weniger als zehn Minuten. Mein Appetit ließ heute früh zu wünschen übrig und so nahm ich mir von dem bisher noch unangerührten Apfel. 
  "Guten Morgen Kinder", begrüßte uns Ann.
Ann war unsere andere Betreuerin. Sie musste immer bei uns sein als Hausmutter, obwohl sie kaum mütterlich war. Wir alle waren ihr ziemlich egal. Sie tat das nur, damit sie nicht wieder in der Gosse landete. Carl war ihr Bruder, deshalb fasste er sie nie an. Doch anstatt uns vor ihm zu bewahren, blieb sie unten und sah fern. Ihr war wirklich egal, was mit uns geschah. Ihr war egal, dass Carl die meisten von uns missbrauchte, seelisch und körperlich. Zu Kyle und Paul sagte sie nur, solange sie in Ruhe gelassen wird, würde sie ihnen alles erlauben und sie hier wohnen lassen.
"Morgen", nuschelten ein paar zurück.
Ann setzte sich an ihren Platz und somit war der Tisch voll besetzt. Wir waren zu zwölft, Ann nicht mitgerechnet. 
"Wer war heute mit Frühstück dran?", schnauzte Ann in die Runde.
"Ich", bemerke ich vom anderen Ende des Tisches.
"Wo ist mein Kaffee, Lia?", beschwerte sie sich.
Ich verdrehte die Augen. In der Kanne hinter dir, wie jeden Morgen, dachte ich. Ann sah uns nicht als Kinder, sie sah uns eher als ihre persönlichen Sklaven. Wir machten das Essen, wir machten die Hausarbeit, wir machten alles. Genaugenommen machte ich aber auch mindestens die Hälfte davon. Die meisten faulenzten wie Ann. 
Wie jetzt mit ihrem Kaffee. Sie müsste sich nur umdrehen, sich die Kanne nehmen und den Kaffee in ihre Tasse gießen, aber nein, dafür hatte sie ja mich.
Also hievte ich mich von Stuhl hoch, nahm die Kaffeekanne und goss ihr ihren beschissenen Kaffee ein.
"Geht doch", meckerte sie. "Warum nicht gleich so?"
  "Hey, für mich auch ein!", rief Trey.
"Tasse", bat ich.
Er hielt sie mir hin und auch er bekam eine Tasse Kaffee. Das Frühstück verlief wie immer. Laut, nervig und irgendetwas ging zu Bruch. Gestern ein Teller, heute zwei Tassen.
Während die anderen sich für die Schule, die Arbeit oder das Faulenzen vor dem Fernseher fertig machten, fegte ich die Scherben zusammen, deckte den Tisch ab, spülte erneut das Geschirr und verstaute den Rest des Essens wieder im Kühlschrank.
Beinahe alle anderen waren schon zur Tür hinaus, als ich gerade erst die Stufen erklomm. Meine Tasche hatte ich schon am Abend gepackt. Ich schmiss sie mir über die Schultern und rannte wieder nach unten. Ich schlüpfte in meine Schuhe und war weg. Verabschieden tat ich mich nie, es interessierte eh niemanden.
Zur Schule kam ich zu Fuß. Es gab kein Geld für den Bus oder ein Fahrrad. Der Fußmarsch dauerte exakt 37 Minuten, wenn alle Ampeln mitspielten.
Die Schule. Kaum zu glauben, aber ich ging wirklich gern zu Schule, es war alle mal besser als 'zu Hause'. Dieser Ort war nicht mein zu Hause, würde es nie sein, es war nur der Ort, an dem ich zur Zeit leben musste. Ich lebte nicht immer dort, zum Glück nicht! Aber die letzten fünf Jahre schon. Es war alles nicht so einfach.
Noch vor der Schule begegnete ich Kelly, einer wirklich guten Freundin von mir. Kelly war klein, wirklich klein. sie hatte nicht mal die 1,60m geschafft. Dafür hatte sie so wilde rote Locken, dass einem der Größenunterschied kaum auffiel. Sie war eine wandelnde Frohnatur und ein Ass in Mathe.
"Guten Morgen, Lia!", begrüßte sie mich freudestrahlend und umarmte mich herzlich.
"Morgen, Kelly", lächelte ich.
"Wie war dein Wochenende?", fragte sie.
"Wie immer, bei dir?"
Kellys Gesicht wirkte zerknirscht Sie wusste was "wie immer" bedeutete und wusste, dass ich darüber nicht reden wollte. Zum Glück wusste sie mich abzulenken.
"Toll, meine Eltern sind mit uns an den Strand gefahren. Halt dich fest: Mit einem Wohnmobil! Es war total cool. Andre und ich haben den ganzen Tag am Strand in der Sonne gelegen und Mum und Dad haben sich alle möglichen Sehenswürdigkeiten angesehen. Wir waren auch in so einem komischen Fischrestaurant und Dad hat allen Ernstes Tintenfisch bestellt. Tintenfisch! Kannst du dir das vorstellen?"
So ging das immer und immer weiter. Sobald Kelly in so einen Redefluss verfiel, konnte sie nichts mehr aufhalten. Das Gute war, dass ich nie zu genau hinhören musste und sie mit zwischendurch Nicken und 'Ja!, 'Echt?', 'Wow, klingt toll' zufrieden war. Ich liebte sie wirklich! Sie war meine beste Freundin, aber das war mir echt zu viel am frühen Morgen!
In der Schule begegneten wir Kevin und Kendall, den Zwillingen und Ricky, unserer Göre.
"Morgen!", riefen Kevin und Kendall unisono und lachten.
"Man, dass wird echt nervig", beschwerte sich Ricky.
"Hey!", riefen die zwei zusammen.
Genervt stöhnte Ricky.
"Hilf mir, Lia!", bat sie mich.
Zu ihrem Verdruss konnte ich nur über die gesamte Situation lachen und ihr wenig helfen. Nach den üblichen Wochenenden brauchte ich meine Freunde, die mich wieder aufbauten. Wie sie mich daran erinnerten, warum ich überhaupt noch hier war. Nachdem wir uns alle begrüßt und umarmt hatten begaben wir uns gemeinsam in Richtung Sporthalle. Ich war froh alle meine Freunde gleich am Morgen an meiner Seite zu haben.
In der Umkleidekabine herrschte diesen Morgen ungewöhnliches Treiben.
"Morgen", begrüßten wir die anderen.
"Habt ihr's schon gehört?", stürzte Claire auf uns zu.
"Was gehört?", fragte Kelly, während sie ihre Sportsachen aus ihrer Tasche kramte.
"Na von dieser komischen Frau, die heute Morgen hier angekommen ist."
"Welche Frau?", fragte Ricky.
"Wissen wir nicht. Sie ist heute Morgen mit Rektor Fell in sein Büro gegangen. Sie hatte so einen Anzug an, der sah beinahe wie eine Uniform aus. Rektor Fell schwitze wie ein Schwein und sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden."
"Moment mal, unser Rektor Fell? Ohnmächtig? Der, mit dem Herz aus Eis?", fragte ich ungläubig.
Claire nickte zustimmend und mit großen Augen.
"Wir haben schon alle möglichen Schüler und Lehrer gefragt, keiner weiß wer sie ist oder was sie hier will, aber Mark aus der Oberstufe will gehört haben, dass sie jemanden abholen will."
"Wie, jemanden abholen?", fragte Kerstin, ein eher unscheinbares Mädchen aus der Ecke der Umkleide.
"Keine Ahnung, dass fragen wir uns ja auch schon die ganze Zeit!", beschwerte sich Claire.
"Ach wahrscheinlich ist das alles nur Gerede. Hast du diese Frau gesehen?", fragte Charlotte, die Nummer eins Oberzicke dieser Schule.
"Nein", erwiderte Claire.
"Also. Wer sagt uns denn, dass sie wirklich hier ist? Das ist doch nur ein Gerücht, da hat sich jemand einen Spaß erlaubt. Mehr nicht."
"So Mädels, jetzt beeilt euch mal!", rief unser Sportlehrer durch die Tür.
Schnell zogen sich die letzten um, machten sich Pferdeschwänze oder banden Schleifen in ihre Schuhe. In der Turnhalle versammelten wir uns alle wie immer in der Mitte in einem großen Kreis.
"Morgen, Schüler", begrüßte uns Mr Bannon.
"Morgen", gab die Schülerschaft wenig enthusiastisch zurück.
Es war Montagmorgen und auch Mr Bannon hatte keine Lust auf Sport, er konnte es den Schülern also nachsehen.
"Bevor wir mit dem Unterricht beginnen, möchte Miss. Smith noch etwas zu euch sagen."
"Wer?", fragte mich Kelly und ich zuckte die Schultern.
Auf dieser Schule gab es keine Miss. Smith, hatte es bisher nie gegeben und von einer neuen Lehrerin wusste auch niemand etwas. Die Schüler begannen verwirrt zu murmeln. Eine Frau kam hinter unserem Sportlehrer zum Vorschein und ging auf unsere Gruppe von Schülern zu.
Sie war groß, ungefähr 1,85m. Sie hatte dunkelblondes Haar, dass ihr bis unters Kinn reichte. Es war eine Art Bob-Frisur Die Frau war vermutlich Ende dreißig bis Anfang vierzig. Sie trug einen Marine blauen Anzug. Über ihrem Herzen prangten ein paar Abzeichen und ein silbriges Symbol. Ihre hohen Absatzschuhe klackerten auf dem Linoleum des Turnhallenbodens und alles wurde still. Diese Frau strahlte Stärke und Schnelligkeit aus und ich kannte sie.
Noch während sie auf uns zu ging fanden ihre Augen sofort meine. Meine Augen weiteten sich, als ich sie erkannte und sie lächelte mich fröhlich an. Auch sie erkannte mich. Noch im Gehen öffnete sie ihre Arme. Ohne groß darüber nachzudenken, lief ich auf sie zu und sprang in ihre Arme. Sie drückte mich an ihre Brust und ich klammerte mich an sie. Solange war es her, dass ich sie gesehen hatte.
"Ma petite fille", flüsterte sie.
So hatte sie mich früher immer genannt: Ihr kleines Mädchen. Es war solange her, dass ich diese drei Worte gehört hatte. Sie erinnerten mich an so vieles, an so vieles vergangenes was nie wieder sein würde. Es trieb mir die Tränen in die Augen. Aber ich weigerte mich, diese Tränen wirklich zu vergießen. 
"Kalia", seufzte ich in ihren Anzug.
Sie roch noch wie früher. Sie sah beinahe noch genauso aus wie früher. Sie rückte ein Stück von mir ab, um mich zu betrachten.
"Rose, sie dich an", lächelte sie. "Du bist so groß geworden!"
Freudestrahlend lachte sie auf und sah mich aus diesen großen Augen an. Rose. Allein der Klang dieses Namens ließ mich innerlich schreien.
"Rose?", fragte Mr Bannon. "Ihr Name ist Lia."
Beide sahen wir zu meinem Sportlehrer. Er hatte recht, die letzten fünf Jahre war ich Lia gewesen, aber davor nicht. Davor war ich Rose gewesen. Traurig und voller Erinnerungen seufzte ich.
"Nein, ihr Name ist Rose", erwiderte Kalia mit ernster, fester Stimme, die keinen Zweifel zuließ.
Verwirrt sah mich Mr Bannon an, aber ich beachtete ihn gar nicht. Zu groß war das Wunder, dass Kalia tatsächlich hier vor mir stand.
"Ich habe dich vermisst", flüsterte ich, sodass nur sie es hören konnte.
"Nicht so sehr wie ich dich", lächelte sie zurück.
"Was tust du hier?", fragte ich ehrlich neugierig.
Kalia wandte sich an Mr Bannon. 
"Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne mit Rose unter vier Augen unterhalten. Darf Sie den Unterricht verlassen?"
"Natürlich", antwortete Mr Bannon.
Er sah immer noch verwirrt aus, genau wie meine Mitschüler. Keiner verstand so genau was hier los war. Keiner verstand, dass ich Rose war. Dass das mein Name war, mein richtiger Name.
"Komm, wir gehen ein Stück."
Kalia legte einen Arm um meine Schultern und führte mich zu einer Seitentür aus der Sporthalle hinaus. Wir gingen hinaus auf den Sportplatz. Die kalte Luft des Winter morgen verursachte mir eine Gänsehaut an Armen und Beinen, aber ich ließ es mir nicht anmerken.
"Du bist so groß geworden", seufzte Kalia.
"Und du alt", scherzte ich.
Sie lachte.
"Ja, das mag wohl stimmen."
Wir verfielen in eine angenehme Stille. Ohne uns abzusprechend hielten wir beide auf eine der Bänke zu, die um die Laufbahn herum aufgestellt waren. Wir setzten uns auf die erstbeste und ich wartete, dass sie sagte, warum sie hier war. Als sie nichts sagte, beschloss ich das Eis zu brechen.
"Wieso Smith?", fragte ich glucksend. 
"Hmm?"
"Dein Auftauchen hier hat so oder so schon für Wirbel gesorgt, aber mit einem Nachnamen wie Smith wirkst du doch bestimmt wie jemand vom FBI", lachte ich.
Sie lächelte mich an. Zeigte ihren strahlend weißen Zähne und kicherte kurz.
"Es war der erste Name, der mir in den Sinn kam."
Ich musste lachen. Kalia war nicht gerade die Frau von der ich erwartete mit einem Nachnamen wie Smith aufzutauchen, was mich wieder daran erinnerte.
"Warum bist du hier?", fragte ich wieder ernst. "Versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass du hier bist, aber ich verstehe nicht wieso."
"Deinetwegen."
"Meinetwegen?"
"Ja, Rose, deinetwegen. Ich möchte dich zurück holen."
"Sie wollen mich wieder auf die Akademie schicken?"
"Ja", antwortete sie schlicht.
Das ließ mich erst mal sprachlos. Meine Gedanken kreisten. Die Akademie. Ich dachte daran, als ich noch die Akademie besuchte. Dachte an die Einrichtung, an meine Freunde, die Lehrer, an meine Eltern. Einfach an mein altes Leben, mein Leben bevor ich schließlich hierher kam. Ich dachte daran, wie viel besser es mir dort ging.
"Wieso jetzt?", fragte ich.
Kalia ließ mir immer Zeit meine Gedanken zu ordnen und wartete bis ich schließlich wieder sprach, so auch jetzt. Die ganze Zeit hatte sie mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, ist aber still geblieben um mir ein wenig Zeit zum Denken zu gönnen. Kalia seufzte.
"Ist das wichtig?", fragte sie.
Ich bemerkte, dass sie mir auswich. Warum konnte ich mir nicht erklären, aber ich dachte über ihre Frage nach. War es wichtig? Eigentlich nicht.
"Nein", sprach ich meine Gedanken aus. "Aber ich kann mir die Akademie nicht leisten, dass weißt du. Das war einer der Gründe, warum ich damals gehen musste."
Traurig sah ich auf meine im Schoß gefalteten Hände. Hätte ich dich da bleiben können. So viel Leid wäre mir erspart geblieben.
"Mach dir darüber keine Gedanken. Wenn du wieder zurück kommen möchtest, dann kannst du das hiermit tun."
In meinem Hinterkopf sagte mir eine Stimme, dass hier etwas faul war. Die Akademie war teuer, sehr teuer. Ich hatte sie mir damals nicht mehr leisten können, das war mit Hauptgrund warum ich ging. Hätten sie mich da behalten wollen, hätten sie mir doch damals schon den Aufenthalt finanzieren können. Wieso also jetzt? Was hatte sich geändert?
"Was sagst du, Rose? Möchtest du wieder zurückkehren?"
Ja! Alles in mir schrie ja! Ich hatte mir schon vor langem geschworen jede Chance, die sich mir bieten könnte, um hier weg zu kommen, zu ergreifen. Hier war meine Chance und so sehr ich hier auch weg wollte, von Ann, Carl und den anderen, hatte ich Zweifel. Kelly, Kendall, Kevin und Ricky kamen mir in den Sinn. Ihre vier lachenden Gesichter konnte ich deutlich vor mir sehen. Sie wären die Einzigen die ich vermissen würde. Aber waren sie es wert in diesem Höllenhaus zu bleiben? Die ehrliche Antwort war nein. Carl hatte mich geschlagen, mich benutzt. Er hatte mich nicht mal wie ein Mensch behandelt. Keinen von uns.
"Ich möchte dich nicht drängen, aber ich brauche jetzt eine Entscheidung, Rose."
Kalia legte mir eine aufmunternde, warme Hand auf die Schulter. Ich sah auf in ihre Augen. Ja, ich würde zurück gehen. Mein Kopf nickte von ganz allein und meine Lippen verzogen sich automatisch zu einem kleinen Lächeln. Kalia lächelte ebenfalls und umarmte mich erneut.
"Ich werde deine Sachen holen. Du bleibst hier in der Schule. Ich komme dich nach dem Mittagessen holen. Einverstanden?"
Ich nickte und gemeinsam gingen wir wieder in die Sporthalle. Dass Kalia meine Sachen holen würde, war eine große Erleichterung für mich. Jetzt Ann zu begegnen und ihr zu sagen, ich würde verschwinden, nein. Sie würde alles daran setzten, dass ich bei ihr blieb. Dass ich ihre Arbeit machte und Carl mich weiterhin benutzen konnte. Kalia und ich verabschiedeten uns und vereinbarten einen Treffpunkt für später. Dann umarmte sie mich noch einmal schnell und ging mit schnellen Schritten von dannen. Die anderen Schüler spielten Völkerball. Viele der Augenpaare waren auf mich gerichtet, als ich nun wieder dazu kam.
"Lia, du spielst nächste Runde in Kendalls Mannschaft", rief Mr Bannon.
Ich nickte ihm einmal zu und wartete neben ihm am Rand des Feldes auf das Ende des Spiels. Nach nicht einmal ein paar Minuten war das Spiel vorbei und Kendalls Mannschaft gewann. Die Spieler ordneten sich neu und ich marschierte zu meiner neuen Mannschaft. Kevin, Ricky und Kelly waren in der gegnerischen Mannschaft. Sie sahen mich nur immer wieder fragend an, Kendall konnte mir seine Fragen stellen.
"Hey Lia", winkte er mich grinsend zu sich ran.
"Was gibt's Kendall?", grinste ich zurück.
"Wer war das eben?", fragte er. "Du kanntest sie."
Es war eine Feststellung, keine Frage.
"Ja, ich kenne sie. Bevor ich hierher gezogen bin, war sie eine meiner Lehrerinnen."
Kendall hob eine Augenbraue. Er glaubte mir nicht, dass ich so eine ehemalige Lehrerin von mir begrüßen würde und er hatte recht. 
"Sie war eine Freundin meiner Mutter", seufzte ich traurig.
"Komm her", lächelte er traurig.
Kendall zog mich in seine Arme und strich mir über den Rücken. Er wusste wie sehr ich meine Eltern vermisste und jemanden von ihren alten Freunden zu treffen riss die Wunde natürlich wieder auf. 
"Was wollte sie hier?", fragte er in mein Haar.
"Mich hier weg holen. Zurück auf meine alte Schule."
Für einen Moment verstärkte sich sein Griff um mich und er wurde nicht mehr trostspendend, sondern besitzergreifend. Er wollte mich nicht gehen lassen.
"Wirst du gehen?", nuschelte er traurig.
Er kannte die Antwort bereits. Alle meine Freunde wussten wie wenig mir mein 'Heim' gefiel, wie ich dort behandelt wurde. Sie alle wussten, dass ich nichts lieber wollte, als dort weg zu kommen.
Ich bekam einen Kloß im Hals. Einerseits wollte ich weg, wollte dringend soweit wie möglich weg! Andererseits wollte ich meine Freunde nicht verlassen! Sie waren das Wertvollste was ich besaß und eigentlich waren sie alles, was ich hatte. Niemand bedeutete mir mehr als sie! Voller Trauer darüber sie nun zu verlassen, verschlug es mir die Sprache. Zur Antwort konnte ich ihm nur nicken. Ich schluchzte und Kendall zog mich enger an sich.
"Ssshhh. Hey, alles super. Freu dich darüber, dass du von dort wegkommst. Und mal ehrlich, Kevin ist keine Träne wert, huh?"
Er versuchte mich aufzumuntern und ich musste schmunzeln. Ich sah zu ihm auf, dankbar für seine Fürsorge. Ich küsste ihn auf die Wange und er lächelte.
"Hey, dass ist kein Abschied, verstanden?", meinte er streng. "Du wirst uns nicht los. Wir halten Kontakt, klar? Und wenn nicht, dann kommen wir zu dir und treten dir ordentlich in deinen süßen Arsch! Verstanden, hübsche Lady?"
Ich lachte und fiel ihm wieder um den Hals.
"Ich werde dich vermissen."
"Ich werde dich auch vermissen."
"Können wir dann?", unterbrach Mr Bannon genervt.
Kendall und ich lösten uns voneinander und machten uns bereit fürs Spiel. Kendall schien vollkommen cool, ich hingegen lief dunkelrot an.

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