11. Love Is In The Air


Wir schwiegen uns beide nur an. Es war unangenehm mit ihr allein zu sein. So war es mir noch gegangen, nicht im Bezug auf Emely. Verdammt, sie war meine beste Freundin! Zumindest war sie das einmal gewesen und ich für meinen Teil, sah sie eigentlich immer noch als solche an. 
„Es tut mir Leid“, brabbelte ich aus, als ich die Stille um uns nicht mehr ertragen konnte.
Ich sah Emely mit großen, flehenden Augen an. Verdammt, es tat mir so unendlich leid. Ich wusste nicht, wie ich das je wieder gut machen konnte oder ihr auch nur erklären konnte ohne ihr zu sagen, was mit mir passiert war. 
„Das sollte es auch!“, rief Em plötzlich. „Verdammt, weißt du durch was wir alles durch mussten? Weißt du wie das war?“
„Nein“, gab ich kleinlaut zu.
Emely sah mich an und atmete schnaubend. Sie war wütend. 
„Verdammt Rose!“, rief sie. „Du warst weg, einfach weg! Wie vom Erdboden verschluckt! Weißt du was wir alles unternommen haben, um dich zu finden?“
„Em, ich -“
„Weißt du durch was wir durch mussten? Egal welche noch so kleine Spur wir hatten, wir sind ihr nachgegangen, und am Ende: Nichts! Jedes mal! Es gingen Gerüchte um, so unfassbar viele, ich habe nie auch nur an eins dieser Gerüchte geglaubt. Nie! Aber je mehr wir suchten, und je weniger wir fanden, desto weiter sank unser Mut. Rose, wir haben nie daran geglaubt, dass du Tod bist. Kannst du dir vorstellen, was wir uns für Horrorszenarien ausgemalt haben?“
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich in einem Horrorszenario gelebt hatte, aber das konnte ich nicht. Emely hatte schon so oder durch viel zu viel durch gemusst. Ich musste ihr nicht noch mehr aufhalsen. 
„Emely, ich wusste doch nicht -“
„Dass wir nach dir suchen würden? Natürlich würden wir das, Rose!“ Emelys nasse Augen konnten die Tränen nicht mehr halten und sie liefen hemmungslos ihre Wangen hinab. „Verdammt, du hättest dasselbe für uns getan! Du bist verschwunden von heute auf morgen und wir wollten für dich da sein. Du hattest deine Eltern verloren, wir haben gesehen wie du hierher zurück gebracht wurdest. Wir haben einen Blick von dir erhascht in einem Sekundenbruchteil. Du hast zu Boden gesehen, verständlicherweise. Und dann am Abend, als wir endlich zu dir durften und wir alle einfach nur für dich da sein wollten, warst du weg. Ich kam in unser Zimmer und du warst weg! Alle deine Sachen waren weg, dein Bett war neu bezogen, es war als wärst du nie dagewesen!“
„Emely, ich konnte mir das doch nicht aussuchen!“, rief ich dazwischen.
Ich hörte wie meine Stimme um mehrere Oktaven in die Höhe schoss. Meine Stimme klang leicht hysterisch, aber das war mir egal. 
„Denkst du etwa, ich wollte euch verlassen?“, fragte ich erschüttert.
Auch Emely sah mich mit großen Augen an. 
„Du warst einfach weg, ohne Abschied, ohne einen Brief oder sonst irgendeiner Nachricht. Und du hast dich danach kein einziges Mal gemeldet, bei keinem von uns.“
„Weil ich nicht konnte“, rief ich aus. „Verdammt Em, ich wollte hier doch nie weg!“
„Wieso hast du mich dann verlassen?!“
Und das war der Punkt. Nicht weiter ein 'uns' oder 'wir', ein 'ich'. Sie fühlte sich von mir im Stich gelassen und aus ihrer Sicht, konnte ich es ihr nicht verdenken. 
„Ich habe dich nie freiwillig verlassen, dass musst du mir glauben“, flüsterte ich beinahe. 
„Rose, hör auf mit dieser kryptischen Scheiße und erkläre mir endlich wovon du sprichst!“, schrie Emely und raufte sich das Haar.
„Emely, ich wollte nie weg. Ich wurde dazu gezwungen meine Sachen sofort zu packen und sofort die Akademie zu verlassen. Kalia hat diese … Typen, keine Ahnung wer die waren, angefleht, dass ich mich noch verabschieden darf, aber sie haben es verboten. Ich habe geschrien und gehofft irgendjemand würde mich hören, aber niemand war da. Die einzige, von der ich mich verabschieden konnte war Kalia, die mit mir gemeinsam mein Gepäck zum Parkplatz getragen hat.“
„Das verstehe ich nicht“, hauchte Emely aus.
Ich lachte freudlos auf und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Eine Angewohnheit, die ich ohl nie loswerden würde.
„Ich verstehe es heute noch nicht. Emely, die haben mich hier hochkantig rausgeschmissen, weil ich kein Geld hatte. Meine Eltern waren gestorben, also bezahlte niemand mehr mein Schulgeld. So schnell wie möglich musste ich die Sachen packen und wurde in ein Waisenhaus verfrachtet.“
„Waisenhaus?“, fragte Em mit großen Augen. 
„Waisenhaus“, nickte ich. 
„Du hast in einem Waisenhaus gelebt?“, fragte Emely und hielt sich erschrocken eine Hand vor den geöffneten Mund.
„Ich wünschte es wäre so“, murmelte ich, war mir aber nicht sicher, ob sie es gehört hatte.
Nachdem ich einmal tief eingeatmet hatte, blickte ich Emely wieder direkt an.
„Ja und Nein. Anfangs ja, dann wurde ich von Familie zu Familie gereicht. Zwischendurch war ich immer mal wieder in einem anderen Waisenhaus. Aber die letzten Jahre habe ich in einer Familie gelebt mit vielen anderen Waisen.“
„Rose“, schniefte Emely. 
„Ich wollte mich melden, wollte ich wirklich“, beteuerte ich. „Aber ich hatte nie die Möglichkeit an ein Telefon zu kommen, oder an ein Handy oder einen Computer. Als ich dann die Möglichkeit hatte, war es zu spät. Die Nummer der Akademie gab es nirgends zu finden, verdammt die Akademie gab es nirgends zu finden! Und ich hatte keine E-Mail Adressen von euch oder sonstiges. Ich habe versucht eure Eltern ausfindig zu machen, aber ich hatte keine Mittel dazu.“
„W- Wieso konnten wir dich nicht finden?“, fragte Emely schüchtern, als hätte sie Angst vor der Antwort.
„Ich weiß es nicht“, schüttelte ich den Kopf.
„Versteh das nicht falsch, Rose, aber wie bist du denn dann überhaupt zurück gekommen?“, fragte Emely nach ein paar stillen Sekunden. „Ich meine, wenn du jetzt wieder hier sein kannst, wieso konntest du nicht gleich ganz bleiben? Wieso musstest du uns verlassen? Und wieso jetzt?“
Darüber hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht, allerdings nie eine richtig logische Antwort gefunden. 
„Auch das weiß ich nicht“, schüttelte ich traurig den Kopf. 
Ich dachte daran zurück, als Kalia in meiner Schule aufgetaucht war und mir angeboten hatte zurück zu kommen. Schon damals, hatte ich mir diese Fragen gestellt.

"Wieso jetzt?", fragte ich.
Kalia ließ mir immer Zeit meine Gedanken zu ordnen und wartete bis ich schließlich wieder sprach, so auch jetzt. Die ganze Zeit hatte sie mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, ist aber still geblieben um mir ein wenig Zeit zum Denken zu gönnen. Kalia seufzte.
"Ist das wichtig?", fragte sie.
Ich bemerkte, dass sie mir auswich. Warum konnte ich mir nicht erklären, aber ich dachte über ihre Frage nach. War es wichtig? Eigentlich nicht.
"Nein", sprach ich meine Gedanken aus. "Aber ich kann mir die Akademie nicht leisten, dass weißt du. Das war einer der Gründe, warum ich damals gehen musste."
Traurig sah ich auf meine im Schoß gefalteten Hände. Hätte ich dich da bleiben können. So viel Leid wäre mir erspart geblieben.
"Mach dir darüber keine Gedanken. Wenn du wieder zurück kommen möchtest, dann kannst du das hiermit tun."
In meinem Hinterkopf sagte mir eine Stimme, dass hier etwas faul war. Die Akademie war teuer, sehr teuer. Ich hatte sie mir damals nicht mehr leisten können, das war mit Hauptgrund warum ich ging. Hätten sie mich da behalten wollen, hätten sie mir doch damals schon den Aufenthalt finanzieren können. Wieso also jetzt? Was hatte sich geändert?

„Ich habe damals Kalia gefragt, als sie mich von meiner alten Schule geholt hat“, teilte ich Emely mit. „Sie ist meinen Fragen damals ausgewichen und mir was es nicht wichtig genug, um weiter nachzufragen.“
Mit einem Schulterzucken tat ich das ganze ab und sah fragend zu Emely.
„Nicht wichtig genug?“, fragte sie erschüttert.
Ihre Augen waren geweitet und sie ging einen Schritt von mir weg. 
„Ich wollte da weg. Ich wollte da weg und wieder hierher. Es war mir egal, welches Wunder dafür gesorgt hatte. Wer auch immer mir meinen Aufenthalt hier zur Zeit bezahlt verdient meinen Dank. Es ist mir egal, wer es ist und warum er oder sie es macht. Emely, ich bin hier, ich bin wieder da und ich werde alles tun, um mein altes Leben wieder zu bekommen und diese letzten fünf Jahre zu vergessen!“
Mit zwei schnellen Schritten war Emely vor mir und schlang ihre Arme um mich. Sie drückte ihr Gesicht an meinen Hals und versteckte es in meinen Haaren. Ihre Haare kitzelten auf meiner Nase und ich roch den bekannten Duft von Jasmin. Ich spürte wie ihre Tränen auf meine Schulter tropften und sie die Arme so eng wie möglich um mich schlang. 
„Ich hab dich vermisst, Red“, nuschelte sie in meinen Hals.
Sofort breitete sich ein Lächeln auf meinen Zügen aus, als ich ihren alten Spitznamen für mich hörte. Als wir uns kennengelernt hatten, hatte meiner Mutter mich Emelys Mutter mit ganzen Namen vorgestellt, sodass Emely mich nur verständnislos angesehen hatte. Dann hatte ich mich ihr als Rose vorgestellt. Ihre erste Frage war sofort, „Rose, wie die Blume?“. Sofort hatte ich die Augen verdreht. Immer dieselbe Frage. Aber ich hatte ergeben genickt. Als Emely aufgefallen war, dass mich der Vergleich nervt, nannte sie mich 'Red'. Es war 'Rose', nur eben die Farbe einer Rose. Das war Emelys Erklärung gewesen und seit je her, hatte sie mich Red genannt.
„Du hast mir gefehlt, Amy“, nuschelte ich in ihr Haar hinein. 
Auch ich spürte, wie sie an meiner Schulter grinste. Nachdem ich einen Spitznamen erhalten hatte, wollte Emely unbedingt auch einen. Ich hatte sie lediglich 'Em' genannt, aber das war ihr nicht kreativ genug, so nannten sie auch andere und sie wollte etwas einzigartiges zwischen uns beiden. Irgendwann hatte ich genervt immer wieder 'Emely' vor mich hingemurmelt und irgendwann kam es zu schnell heraus, sodass ich immer 'Emly, Emly, Emly' sagte. Emely war aufgesprungen und hatte 'Amy, Amy, Amy' geschrien und in die Hände geklatscht. Sie fand es fair genug, dass sie sich selbst einen Spitznamen gegeben hatte. 
„Du weißt gar nicht wie gut es ist, dass wieder zu hören“, lächelte Emely und löste sich von mir. 
Sie fuhr sich mit den Handrücken über die Augen und wischte sie trocken. 
„Glaub mir, ich weiß es“, lächelte ich. 
Sie lächelte strahlend zurück und für einen Moment hatte ich das Gefühl, alles war wie früher. Aber dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Das Glück und die Freude schwand, sie sah traurig und verletzlich aus. 
„Nathan“, flüsterte sie. „Rose, ich -“
Schon nach dem ersten Wort begann ich den Kopf zu schütteln.
„Nein, stopp“, unterbrach ich sie sofort kopfschüttelnd. „Nathan und ich, wir sind Geschichte. Das ist fünf Jahre her, Em.“
„Er liebt dich immer noch“, stellte sie niedergeschlagen fest. 
„Nein, er liebt dich“, betonte ich bewusst stark. „Und das ist auch gut so. Glaub mir, es ist besser so.“
Nun war es Emely die den Kopf schüttelte. 
„Du verstehst das nicht. Du hast nicht gesehen wie er sich verändert hat, seitdem du wieder da bist. Du hast ihn nicht gesehen, als du weg warst. Wenn er erfährt, dass du nie die Möglichkeit hattest dich bei uns zu melden, dann wird er dich zurück wollen. Er liebt dich immer noch Rose, dass habe ich immer gewusst.“
„Nein, dass tut er nicht“, lächelte ich.
„Rose, du -“
„Nein“, lachte ich. „Du verstehst nicht. Ich habe gesehen wie er dich ansieht. So hat er mich nie angesehen. Wie könnte er auch, wir waren zwölf, Em, zwölf. Das ist ein Riesen Unterschied, vor allem nach allem was er durchgemacht hat und was ich durchgemacht habe. Als du im Speisesaal seinen Arm abgeschüttelt hast, als du mich gesehen hast. Du hast seinen Blick nicht gesehen, wie verletzt er war. Nathan und ich, wir sind Freunde und ich liebe ihn, dass werde ich immer. Aber nie so wie du ihn liebst, oder er dich.“
Emely lächelte mit neuen Tränen in den Augen. Sie legte den Kopf ein wenig schief und schniefte einmal kurz auf. Gerade als sie etwas erwidern wollte, ertönte ein Klatschen hinter mir. Wir beide drehten uns zu dem Geräusch um. Melanie lehnte im Türrahmen und applaudierte. Sie hatte ein boshaftes Grinsen auf den Lippen.
„Was für eine Rede“, bemerkte sie mit ihrer unangenehmen Stimme. „Aber wie war denn das gestern Abend beim Ball?“
Melanie hob eine Augenbraue und funkelte mich durchdringend an. Ich zuckte lediglich nonchalant die Schultern und setzte zu einer Antwort an, aber sie war schneller.
„Er hat mit dir eng umschlungen getanzt. Er tanzt nie, mit niemandem, egal was man ihm bietet oder wie sehr man ihn darum bittet. Glaub mir, Emely hat alles versucht. Und auch nachdem euer Tanz vorüber war, hat er dich nicht losgelassen, richtig? Dann küsst er dich und ohne einen weiteren Blick zu seiner Freundin, verlässt er den Saal. Und heute? Keine Erklärung, nichts. Und sobald man ihn darauf anspricht, verschwindet er. Oder der Vorfall im Buzzer? Ja, wir haben davon gehört. Wie lange hat er da vor deinem Zimmer gewartet? Gemeinsam mit Mike und Jayden, zwei Menschen die er hasst. Aber deinetwegen sitzt er dennoch neben ihnen und wartet. Und du, du sorgst dafür das er -“
„Hör auf!“, schrie Emely schluchzend. 
Mir war nicht aufgefallen, dass sie wieder angefangen hatte zu weinen. Tränen schossen aus ihren Augen, ihr Mascara lief ihre Wangen hinab und ihre Nase lief nun nonstop. Bevor auch nur irgendjemand im Raum etwas weiteres äußern konnte, rannte Emely aus der Tür hinaus. 
„Emely!“, rief ich ihr noch nach, aber sie achtete nicht auf mich. „Em!“
Beim Rennen knallte Emely gegen Melanies Schulter, aber das schien ihr egal zu sein. Melanie grinste mich nur gehässig an und drehte sich dann von mir weg, vermutlich um Emely zu folgen. 
So ein Miststück!, dachte ich. Was war sie denn für eine Freundin?! Ich konnte es ja verstehen, dass sie mich nicht mochte und mir wehtun wollte, aber ich dachte sie und Emely wären befreundet. Dass sie Emely da raus halten würde und vor allem ihre Beziehung mit Nathan. 
„Verdammt, Em!“, rief ich und rannte ihr hinterher. 
Draußen suchte ich die Gegend nach Emely und/oder Melanie ab, aber ich konnte keine von beiden entdecken. 
„Mist!“, zischte ich und rannte in die erstbeste Richtung. 
„Emely!“, rief ich.
Ich rannte durch Gänge, über Wiesen, in leere Klassenräume, aber ich fand sie nicht. Normalerweise gibt es ja für jeden so einen Ort, an der er geht, wenn er traurig ist, aber so etwas hatte es für uns nie gegeben. Wenn wir traurig gewesen waren, oder verärgert oder sonst was, haben wir immer die andere gesucht. Keine Ort, immer einander. Wo lief sie also hin, wenn sie von mir weg wollte? Und auch Melanie,  wenn wir mal annahmen, dass sie mich die letzten fünf Jahre ersetzt hatte.
„Emely!“
Nach einer halben Stunde war ich beinahe drauf und dran aufzugeben. Ich wusste einfach nicht, wo sie sonst seien könnte. Mir waren die Ideen ausgegangen und ich war auch niemandem begegnet, der sie gesehen hatte. Seufzend machte ich mich also auf den Rückweg. 
„Warum so geknickt?“, flüsterte mir plötzlich jemand ins Ohr.
„Ah!“, schrie ich und sprang gefühlte drei Meter in die Luft. 
Ich stieß mit der Schulter gegen eine Wand, eine Hand lag auf meinem hämmerndem Herzen und ich sah in die amüsierten Augen von Sam. 
„Schreckhaft?“, fragte er grinsend und hob eine Augenbraue. 
„Hast du sie noch alle?“, keuchte ich. „Du hättest mir fast einen Herzinfarkt verpasst.“
„Ah, aber nur fast“, grinste er. 
Nachdem sich mein Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte, entfernte ich mich von der Wand und ging neben Sam weiter den Gang entlang. Wir fielen in Gleichschritt, ohne es wirklich zu wollen. 
„Was wollte Pierce noch von dir?“, fragte Sam.
Small-Talk? War das sein ernst? Ich traute meinen Augen und Ohren nicht und sah ihn an, als wäre er geisteskrank. Er starrte weiterhin geradeaus.
„Nichts besonderes“, murmelte ich verwirrt. 
Er nickte nur abwesend. 
„Wo willst du hin?“, fragte ich. 
„Buzzer, mit Nathan“, zuckte er die Schultern und schenkte mir sein typisches Grinsen. 
„Das Buzzer!“, rief ich.
Mit großen Augen grinste ich Sam an. 
„Du bist ein Genie!“, rief ich.
Er sah mich verdutzt an, aber mehr bekam ich nicht mehr mit. Sofort lief ich los in Richtung Buzzer. Es war der einzige Ort, an den ich nicht gedacht hatte und wenn Nathan dort war, war es vielleicht auch Emely. 
„Hey Scar, warte mal!“
Sam war hinter mir her gerannt und mich eingeholt. Er packte mein Handgelenk und drehte mich zu sich um. 
„Was?“, fragte ich eifrig von ihm weg und zu Emely zu kommen.
„Wo willst du hin? Was ist los?“, fragte er sichtlich verwirrt über mein Verhalten.
„Sam“, stöhnte ich genervt.
Ich hatte jetzt keine Zeit ihm irgendwelche Fragen zu beantworten. Mit einem letzten Kopfschütteln entriss ich ihm mein Handgelenk und lief weiter in Richtung Buzzer. In Windeseile hatte ich die halbe Schule durchquert. 
Keine Ahnung ob Sam mir folgte oder nicht, es war mir eigentlich auch egal. Es war mehr los als beim letzten Mal. Die Trennwand in der Mitte war geöffnet worden und es spielte laute Musik. Das ganze wich nun mehr einem Club als allem anderen. Der Raum war überfüllt und es fiel mir schwer jemanden klar auszumachen. Das Licht war gedimmt, was das ganze noch etwas erschwerte. 
Überall tanzten Jugendliche und rieben sich eigentlich nur aneinander. Ich konnte mein eigenes Wort nicht verstehen und erkennen schon gar keinen. 
Während ich hektisch von links nach rechts blickte, erhaschte ich den Blick auf ein bekanntes Gesicht. Nathan. 
„Nate!“, rief ich über den Lärm hinweg. 
So unmöglich es auch schien, er hörte mich und begegnete meinem Blick. Ich musste schlimmer aussehen, als ich dachte, denn er starrte mich schockiert an. Sofort sprang er auf, ließ alle um sich herum stehen und kam auf mich zu. Er stieß alle die ihm im Weg waren beiseite, bis er bei mir war.
„Rose, was ist los? Was ist passiert?“, fragte er sofort.
Er hatte schon damals immer alles von meinem Gesicht ablesen können. Auch jetzt bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. 
„Hast du Emely gesehen? Weißt du wo sie ist? War sie hier?“, fragte ich ihn. 
„Wie bitte?“, fragte er über die laute Musik hinweg. 
Mist, dachte ich verärgert. Ohne weitere Umschweife ergriff ich Nathans Handgelenk und zerrte ihn hinter mir her nach draußen. Vor der Tür war es nicht mehr so laut und Nathan sah mich besorgt und fragend an. 
„Rose, was ist los?“, fragte er bedrückt.
Er legte mir jeweils eine Hand auf die Schulter und sah mich an. Er zog die Stirn in Falten und legte den Kopf ein wenig schräg. 
„Emely“, stieß ich hervor. „Hast du Emely gesehen? Ist sie hier? Ist sie da drin?“
„Was? Emely? Nein, sie ist nicht hier“, schüttelte er den Kopf. „Rose, was ist los? Was ist mit Emely? Was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?“
„Nein! Ja, ach keine Ahnung. Ich muss mit ihr reden!“, sprudelte es aus mir heraus.
Ich wollte schon zur nächst besten Stelle aufbrechen, aber Nathan hielt mich an den Schultern zurück und zwang mich stehen zu bleiben. 
„Nate, ich muss -“
„Du musst gar nichts, außer dich erst mal zu beruhigen“, unterbrach er mich.  
Wieder drückte er meine Schulter zurück, damit ich nicht weg lief. Er sah mir streng in die Augen und für einen Moment kam ich mir vor wie ein kleines Kind. Seufzend ließ ich meine Schultern sinken und gab nach. 
„Du verstehst das nicht“, murmelte ich.
„Dann erkläre es mir“, bat er mich. 
„Nate“, seufzte ich.
„Was?“, fragte er. „Nur weil wir nicht mehr zusammen sind, kannst du nicht mehr mit mir reden?“
Ich seufzte und wich seinem Blick aus. Irgendwo hatte er recht. Ich konnte nicht wirklich mehr mit ihm reden, nicht weil wir mal ein Paar waren, sondern weil er jetzt mit meiner besten Freundin zusammen war. Und ihr schien unsere Vergangenheit zu missfallen und irgendwo konnte ich sie da natürlich verstehen. Unweigerlich dachte ich Kendall, der weit weg von mir war und den ich hinter mir gelassen hatte. Aber den ich jeden Tag vermisste und von dem ich wünschte er wäre hier. 
„Rose? Rose?“, fragte Nathan und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht. 
„Hmm, was?“, schüttelte ich den Kopf.
„Was ist los? Wo bist du mit deinen Gedanken? Was ist mit Emely und dir?“ Plötzlich trat ein Hoffnungsschimmer in seine Augen. „Habt ihr euch ausgesprochen?“
„Na ja, so was ähnliches, zumindest bis Melanie kam.“
„Melanie?“
„Ja“, seufzte ich. „Wir hatten uns eigentlich weites gehend ausgesprochen und auch wieder vertragen. Aber dann haben wir über dich gesprochen. Sie denkt du liebst mich immer noch, ich habe versucht sie von dem Gegenteil zu überzeugen. Emely denkt, dass wenn du erfährst, dass ich nie die Gelegenheit hatte mich bei euch zu melden oder mich zu verabschieden, dass du mir verzeihen würdest und Emely für mich fallen lassen würdest. Ich habe ihr gesagt, dass das Schwachsinn ist, aber dann kam Melanie. Sie hat über gestern Abend gesprochen und ach, einfach alles schlimmer für Em gemacht. Sie ist weinend raus gerannt und jetzt kann ich sie nicht finden!“
Wieder raufte ich mir das Haar und suchte links und rechts von mir nach Emely. Vielleicht hatte ich ja Glück und würde entdecken, aber natürlich hatte ich das nicht.
„Was fällt euch eigentlich ein über meine Gefühle zu entscheiden!“, rief Nathan.
Erschrocken schnellte mein Kopf zurück zu Nate. Er atmete heftig ein und aus. Seine Nasenflügel waren aufgebläht und seine Augen starrten mich voller Zorn an. 
„Was?“, fragte ich verwirrt.
Ich schüttelte den Kopf. Was sollte das denn jetzt? Ich hatte schon genug zu tun mit Emely, Kendall, July, Jayden, Mike, Melanie, Sam und und und. Da wollte ich ihn einmal verteidigen und er schreit mich dafür an. 
„Sag mal: Spinnst du?“, rief ich. „Ich wollte dich nur verteidigen! Ich habe versucht deine Beziehung zu retten und du schreist mich jetzt an?! Sag mal geht’s noch?!“
„Was weißt du denn schon von meinen Gefühlen, huh? Du warst doch nie da!“, schrie er dagegen an. 
„Das war nicht meine Entscheidung! Ich wurde gezwungen euch zu verlassen, mir blieb keine Wahl. Auch als ich weg war wollte ich mich melden, aber ich konnte nicht. Es war verdammt noch mal nicht meine Entscheidung euch einfach so zu verlassen!“
Für einen Moment stand er geschockt und erstaunt vor mir und hielt den Mund. Er sah mich voller Staunen und Unglauben an. Aber irgendein Ausdruck in seinen Augen, eine Art Entscheidung trat in seinen Blick. Eine gewisse Entschlossenheit. 
Und in diesem einen kleinen Moment bildete sich eine Falte auf seiner Stirn. Er wirkte enttäuscht, vielleicht sogar verletzt. Nein, dass konnte nicht wahr sein. 
In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich schnappte überrascht nach Luft. 
„Du liebst mich noch“, stieß ich aus.
Sein Blick veränderte sich nicht, wurde vielleicht noch ein wenig trauriger. Vielleicht auf Grund meiner Reaktion?
„Natürlich“, erwiderte er. 
Für einen Moment setzte mein Gehirn aus und ich dachte einfach an nichts.
Er liebte mich noch … Er liebte mich noch … Er liebte mich noch … Er liebte mich noch … Er liebte mich noch ...
Mein Gehirn schien zu keinem anderen Gedanken mehr fähig, außer diesem. 
Nein! Das war falsch. Er liebte Emely! Er war nur verwirrt und wusste nicht, wovon er sprach. 
„Rose, sag etwas“, bat Nathan. 
Was sollte ich schon sagen? Ich liebte ihn, natürlich, aber nicht so. Nicht wie einen Freund, nicht wie früher, ich liebte ihn wie einen großen Bruder. Das würde sich nicht ändern, da war ich mir sicher. 
„I- Ich“, stotterte ich. 
„Rose!“, rief Sam und kam auf einmal neben Nathan zum Stehen.
Er atmete keuchend und stemmte die Hände auf seine Oberschenkel, während er sich nach vorn beugte. 
„Verdammt“, keuchte er. „Wieso bist du weggelaufen? Was war denn da eben los?“
Ich war noch zu geschockt von Nathans Geständnis, dass ich Sam für einen Moment einfach nur mit großen Augen anstarrte. Er sah mich etwas verwirrt an. Dann blickte er neben sich zu Nathan.
„Hey Nate“, nickte er ihm zu. 
Nathan jedoch schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er sah mich mit einem enttäuschten, traurigen Blick an. Hatte er sich wirklich erhofft, ich würde in seine Arme springen und ihm meine ewige Liebe bekunden? Nach all den Jahren sollte alles einfach wieder werden wie früher? Einfach so?
Er sah mich traurig fragend an und legte den Kopf ein wenig schräg. 
„Rose?“, fragte er. 
Wieder versuchte ich zu antworten, aber es hatte sich so ein riesiger Kloß in meinem Hals gebildet, den ich nicht hinunterschlucken konnte, dass ich still blieb. Stattdessen schüttelte ich also entschuldigend den Kopf. Es war nicht so, dass ich ihm damit wehtun wollte, ich wollte einfach nur ehrlich sein. Am liebsten würde ich ihm das auch sagen. Ich liebe dich, wollte ich ihm sagen, aber wie einen Bruder. Ich konnte nicht. 
Aber als ich seinen gebrochenen Gesichtsausdruck sah, sah ich das egal, was ich hätte sagen können, dieselbe Reaktion hervorgerufen hätte. Nathan, verletzt, gebrochen, verraten. 
Aber hatte ich ihn wirklich verraten?
„So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt“, seufzte Nate. 
Mit einem letzten traurigen Blick auf mich, drehte er sich um und stapfte davon. Einen Moment überlegte ich ihm nach zu gehen, aber ich tat es nicht. Er musste da jetzt durch. 
Dennoch hatte ich ein paar Bedenken, ob es richtig war, es ihm so an den Kopf zu werfen. Ich wollte gar nicht daran denken, was geschehen würde, sobald Nathan und Emely wieder aufeinander trafen.
„Scar, alles in Ordnung?“
Überrascht über die kalte Hand auf meiner Schulter, schreckte ich herum und sah in die Augen von Sam. 
„Ja, ich -“ Ich hielt kurz inne. „Moment mal. Scar?“
Sam sah aus, als wäre ihm selbst gerade erst der Spitzname aufgefallen. Er schien ihm unangenehm zu sein. 
„Ja, ähm.“ Er massierte sich den Nacken mit einer Hand und wich meinem Blick aus. „Deine Narben.“
Meine Narben. Würde ich sagen, ich hätte sie beinahe vergessen, würde ich lügen. Ich besaß Narben auf meinem Körper und meiner Seele, die ich nie würde vergessen können. Dennoch hatte ich vergessen, dass Sam sie schon einmal gesehen hatte. 
Was er wohl dachte, woher ich sie hatte. Für einen Moment hatte ich Angst, er würde mich danach fragen, aber genau dann tat er das genaue Gegenteil.
„Ich werde nicht nachfragen“, schüttelte er den Kopf. 
Ich war mir nicht sicher, wieso er nicht nachfragte, oder wieso er mich im Moment so mitleidig ansah. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach.
„Danke“, nuschelte ich etwas verlegen. 
Meine Narben waren nicht gerade mein Lieblingsthema. Sam schien es ebenfalls unangenehm zu sein und wieder massierte er sich den Nacken. 
„Also, hast du Emely gefunden?“, fragte er. 
Vermutlich nur um irgendetwas zu sagen. Emely. Bei dem Gedanken an sie seufzte ich. Wollte ich ihr jetzt wirklich noch begegnen, nachdem ich wusste, dass sie mit Nathan recht gehabt hatte? Die Wahrheit war: Nein, wollte ich nicht. 
„Nein“, erwiderte ich. „Nur Nate.“
„Ja, was war mit ihm?“
Sam schien sichtlich erleichtert ein Gesprächsthema gefunden zu haben, denn er entspannte sich etwas. 
„Unwichtig“, schüttelte ich den Kopf. 
„Okay?“, meinte Sam erneut verwirrt.
Aber ich ging nicht darauf ein. Wieso sollte ich es ihm erklären? Ich hatte selbst genug, über das ich nachzudenken hatte. 
„Danke“, meinte ich.
„Wofür?“, fragte er perplex.
„Das du vorhin versucht hast mir zu helfen. Im Speisesaal mit Miss Missouri.“
„Ach so. Und ich dachte dafür, dass ich dich auf die Krankenstation getragen habe“, grinste er. „Aber gern geschehen, für beides.“
Ich lächelte ebenfalls und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Der Unterricht für heute war beendet. Emely versteckte sich vor mir, ich hatte Nathans Herz gebrochen, zum zweiten Mal. Ich hatte das von Timothy erfahren und es war der Todestag meiner Eltern. 
Konnte der Tag noch schlimmer werden?, fragte ich ich mich selbst. 
Sam verfiel neben mir in Gleichschritt. Während ich ihn fragend von der Seite anblickte, zwinkerte er mir nur zu und vergrub die Hände in den Taschen. 
„Pläne für den freien Tag morgen?“, fragte er mich.
„Nein“, schüttelte ich den Kopf. „Nicht wirklich. Und du?“
„Ja, morgen findet ein Football Spiel statt. Nate, Shane und ich hatten vor hin zu gehen.“
„Klingt gut“, meinte ich.
Aber eigentlich nur, um irgendetwas zu erwidern. Kendall und Keith waren an meiner alten Schule beide in der Football Mannschaft gewesen und ich hatte mir jedes Spiel angesehen. Einmal hatten wir als Gruppe auch alle gemeinsam gespielt. Die Mädchen gegen die Jungs. Aber sobald Kendall mich zu Boden gerungen hatte und ich vor Schmerzen stöhnte, wegen all meiner Verletzungen, hörten wir auf. 
Ja, ein banales Football Spiel war dafür verantwortlich gewesen, dass ich damals erzählt hatte, was Carl für ein Mensch war. 
„Du kannst gerne kommen“, grinste Sam, der meinen Wechsel der Gefühle nicht mitzubekommen schien. „Gerne auch als Cheerleader.“
Wieder zwinkerte er mir zu und ich lachte auf. 
„Ja klar, Sam“, lachte ich. „Träume ruhig weiter.“
Wie zur Ermunterung klopfte ich ihm auf die Schulter, weil dies sicherlich nur ein Traum bleiben würde. 
„Werde ich“, grinste er süffisant.
„Sam!“, lachte ich erschüttert. 
„Was?“, lachte er ebenfalls. 
Lachend begleitete er mich noch bis zu meinem Zimmer. Wir verabschiedeten uns, aber bevor Sam verschwand, musste ich ihm versprechen morgen zumindest einmal vorbei zu kommen. Erst dann war er grinsend verschwunden. 
Wieder in meinem Zimmer verschwand meine gute Laune schlagartig. Meine Eltern, Timothy, Emely, Nathan, alles kam wieder und stürzte auf mich herab. Es kam mir vor, als würde eine dunkle Wolke über mir schweben und nun über mir herabregnen. 
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und öffnete meinen Laptop. Nach dem er zum Leben erwacht war, zeigte er mir meinen Hintergrund und mehrere Dateien und ähnliches. 
Mit der Maus fuhr ich über den Bildschirm und gelang zu meinen Bildern. Nach kurzem zögern öffnete ich den Ordner „Familientrips“. In diesem Ordner hatte ich alle Fotos von meinen Eltern und mir. Über die Feiertage war ich immer wieder bei ihnen gewesen und sie hatten sich immer etwas für und ausgedacht. Sei es der altbekannte Tierpark oder Wildwasser Rafting. Auf jeden Trip hatten wir unsere Kamera mitgenommen und die Fotos waren das einzige, was mir noch von ihnen geblieben war. 
Es war schmerzhaft sich all die Erinnerungen anzusehen, aber es war irgendwie doch beruhigend. Nach ungefähr zwei Dritteln öffnete sich ein Fenster vor einem Bild. Eine Videochat Anfrage von Kendall. Mit einem etwas wehmütigen Lächeln klickte ich auf „annehmen“. 
„Lia!“, schrien mir vier Köpfe entgegen. 
„Ahh!“, erschrak ich vor der Lautstärke. 
Die vier Köpfe von Kelly, Ricky, Kendall und Keith waren auf meinem Bildschirm in voller Größer erschienen und alle hatten sie breit grinsend meinen Namen geschrien. Vor Schreck war ich instinktiv zurückgewichen und strauchelte nun auf meinem Stuhl, ehe ich zu Boden krachte.
„Autsch“, murmelte ich.
Ich hörte wie Ricky, Kendall und Keith leise kicherten, während Kelly besorgt meinen Namen rief und fragte ob alles in Ordnung sei. 
„Nein“, grummelte ich, während ich meinen Stuhl wieder vor der Kamera positionierte und mich drauf fallen ließ. „Musstet ihr mich so erschrecken?“
„Ja“, grinste Keith. 
„Keith“, meinte Kelly verärgert.
Sie drückte ihm ihre flache Hand ins Gesicht und drückte seinen Kopf aus dem Bild. Unweigerlich kicherte ich. 
„Das war nicht nett“, maulte Keith, als er sich wieder einen Platz vor der Kamera erkämpfte. 
„Awww“, machte ich gemeinsam mit den anderen dreien.
„Ja, ha ha“, meinte er sarkastisch und fuhr sich durchs Haar. „Also Lialein, wie geht’s dir am Arsch der Welt?“
„Erstens: Nenne mich noch einmal so und ich reiße dir den Arsch auf!“, drohte ich ihm, zum Amüsement meiner Freunde. „Und zweitens: Ich bin nicht am Arsch der Welt, nur sehr sehr nah dran.“
Wieder Gekicher. 
„Wie geht's euch so?“, fragte ich, dankbar für ein wenig Normalität. 
Nach einander erzählten sie ein wenig von sich und von der Schule. Nichts wirklich relevantes, aber genau das, was ich hören wollte. Es waren banale, unwichtige Dinge. 
„Hey Lia“, meinte Ricky. „Heute ist der Tag. Wie geht’s dir damit?“
Alle sahen mich mitfühlend an und warteten auf eine Antwort. Aber was war die Antwort? Ich wollte ehrlich zu ihnen sein, wusste aber nicht was genau die Wahrheit war. 
„Keine Ahnung“, seufzte ich also. „Heute ist ziemlich viel passiert, ich weiß nicht wo mir der Kopf steht.“
Ich ließ mich gegen die Rückenlehne des Stuhls fallen und wischte mir einmal mit der hand übers Gesicht. 
„Es ist schon so lange her, aber es kommt mir immer noch so neu vor. Ich kann mich nicht daran gewöhnen und jetzt auch noch wieder hier zu sein. Es ist alles etwas viel.“
Alle sahen sie mich mit einer Mischung aus Anteilnahme und Bedauern an. Ich hasste diese Blicke voller Mitleid oder Heuchelei. Am schlimmsten waren Menschen, die behaupteten, sie wüssten, was man gerade durchmachte. 
Nur weil vielleicht zwei Menschen beide ihre Eltern verloren hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie anschließend dasselbe durchmachten. 
Wir alle unterhielten uns noch ziemlich lang, vermieden es aber über meine Eltern zu reden. Irgendwann wechselten sich alle ab, so dass ich mit jedem auch mal allein sprechen konnte. 
Zum Schluss, kurz bevor ich zum Abendessen musste, waren wieder alle vier Gesichter vor mir. 
„Hey Rose, hast du inzwischen herausgefunden wer diese Männer waren, die uns befragt haben?“, fragte Kendall. 
Mist! Die hatte ich ja total vergessen. 
„Nein“, meinte ich also Kopf schüttelnd. „Das habe ich total vergessen, entschuldigt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie etwas mit dieser Akademie zu tun haben.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Ricky.
„Eigentlich schon“, meinte ich. „Wieso?“
Sie hatte so einen Gesichtsausdruck, oder lag es an ihrem Blick? Irgendetwas an ihrer Mimik sagte mir, dass sie etwas wusste, es aber nicht verraten wollte.
„Ich wollte nur sicher gehen“, winkte sie ab. 
„Na schön“, murmelte ich etwas skeptisch. 
Die anderen bemerkten meine Unruhe und sahen zwischen Ricky und mir fragend hin und her. Aber Ricky blieb cool wie immer, und ließ sich nichts anmerken. 
„Rose!“
Meine Tür schwang auf und Jayden und Mike trudelten ein, als würden sie hier ebenfalls wohnen. 
„Komm schon, wir haben Hunger“, meinte Mike. 
Mike schloss die Tür hinter ihm und Jayden und bieb dann an ihr gelehnt stehen. Jayden jedoch durchquerte mein Zimmer als wäre es seines und schmiss sich auf mein Bett.
„Äh, Jungs, schon mal was von anklopfen gehört?“, beschwerte ich mich. 
„An – Was?“, fragte Mike und legte den Kopf schräg. 
„Kann man das essen?“, grinste Jayden und setzte sich auf, nur um mich anzugrinsen.
Dabei fiel sein Blick auf meinen Laptop und die vier Köpfe mit denen ich mich bis eben unterhalten hatte. 
„Uhhh, Menschen“, grinste Jayden. 
Er krabbelte zum Ende meines Bettes und kniete sich neben mich um meine Freunde zu betrachten. 
„Menschen?“, fragte Mike und kam ebenfalls zu mir. 
Beide knieten sie sich links und rechts von meinem Stuhl hin und starrten meine Freunde an. Diese starrten einfach nur zurück und ich seufzte schwer. 
„Oh, Rosie-Posie, möchtest du uns nicht vorstellen?“, grinste Jayden. 
Ich schubste ihn und er verlor das Gleichgewicht, sodass er mit dem Kopf zuerst mit meinem Fußboden Bekanntschaft schloß. 
„Nenn mich nicht so“, knurrte ich, während Mike in schallendes Gelächter ausbrach. 
„Ist heute 'Macht Jayden fertig'-Tag, oder was? Andauernd brät mir jemand heute eins über“, nörgelte Jayden und richtete sich wieder auf, während er sich den Kopf rieb. 
„Verdienterweise“, meinte ich. „Ich hätte hier drin nackt stehen können und ihr spaziert einfach rein, als würde euch mein Zimmer gehören.“
„Hey, wir hatten darauf gehofft“, zuckte Mike die Schultern.
„Hey!“, beschwerte sich Kendall und wir alle drei sahen wieder auf den Bildschirm.
„Finger weg von Lia!“, knurrte er und zeigte mit einem Finger auf Mike.,
„Oder ihr bekommt es mit uns zu tun!“, fügte Kevin eben so wütend hinzu.
„Wer sind die denn?“, lachte Jayden. „Die sind ja schon fast niedlich.“
„Halt die Klappe Jayden“, meinte ich genervt. 
„Und wieso Lia?“, fragte Mike. 
Frustriert stöhnte ich und ließ meine Stirn auf den Schreibtisch fallen.
„Was machst du denn da?“, fragte Jayden. „Tut das nicht weh?“
Ich knurrte ihn an und schenkte ihm einen mörderischen Blick, der ihn aber nur schmunzeln ließ. 
„Jayden und Mike, dass sind Kelly, Ricky, Kendall und Kevin. Leute, dass sind Jayden und Mike“, stellte ich vor. 
„Hey“, meinte Jayden und Mike und strahlten wieder in die Kamera. 
Die anderen murmelten etwas unverständliches oder schwiegen.
„Okay, unhöflich“, meinte Mike hochnäsig und machte eine passende Handbewegung.
„Aber so was von“, näselte Jayden ihm nach. 
„Jungs, hört auf damit“, lachte ich. 
„Mach schnell, sonst schicken wir July“, grinste Mike und erhob sich. 
Er zwinkerte mir zu, nickte einmal in Richtung Bildschirm und erhob sich dann. Jayden küsste mich auf die Wange und folgte Mike dann aus meinem Zimmer. 
„Und schließe die Tür ab“, meinte Jayden im rausgehen. „Nicht das dich jemand noch nackt erwischt.“
Er zwinkerte ein letztes Mal und ich lachte nur über seinen Humor. 
„Sorry“, lachte ich noch und drehte mich wieder zu meinen Freunden. 
Die alle schienen das aber alles andere als lustig zu finden und mein Lachen erstarb augenblicklich. Sie sahen alle etwas komisch aus. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben kann. Verärgert, aber nicht richtig, beklommen vielleicht? Ja, ich glaube damit ließ es sich am besten beschreiben. Ohne das irgendjemand ein Wort sprach, verabschiedeten sich Kelly, Ricky und Kevin von mir, sodass nur Kendall übrig blieb.
„Wer war der blonde?“, fragte er. 
Seine Stimme klang distanziert, aber verletzt. Er sah mich nicht an, sondern auf seine Tischplatte. 
„Jayden“, meinte ich vorsichtig. 
Kendall stöhnte genervt und sah mich verärgert an. 
„Lia, wieso hat dieser Kerl dich geküsst?“, knurrte er hervor. 
Ich zuckte die Schultern. Es war keine große Sache, er machte das andauernd. Wir waren Freunde, fast Geschwister, da tat man so was eben. 
„Keine Ahnung“, meinte ich. „Wir sind Freunde, er macht das dann und wann eben mal.“
„Dann und wann?“, wiederholte Kendall. „Das passiert also öfter?“
„Ja, na und?“, meinte ich. „Er ist wie ein großer Bruder für mich und ich eben wie eine kleine Schwester für ihn. Was hast du auf einmal?“
„Lia, der Kerl steht auf dich!“, schrie Kendall plötzlich und sprang von seinem Stuhl auf.  
Er pirschte in seinem Zimmer hin und her und ich sah ihm beim grübeln zu. Er hatte die Hände hinterm Rücken verschränkt und wanderte auf und ab. 
„Magst du ihn?“, fragte er, lief aber weiter auf und ab und starrte zu Boden. 
„Natürlich, wir sind Freunde.“
„Nicht so“, schüttelte er den Kopf. 
„Kendall, was soll das?“, fragte ich ihn. „Du weißt, dass ich ihn nicht auf diese Weise mag.“
„Weiß ich das?“, knurrte Kendall erneut. 
Er knallte die Hände auf seinen Schreibtisch und beugte sich stehend vor die Kamera. 
„Weiß ich das?“, wiederholte er. „Lia, ich schreibe dir E-Mails, auf die ich keine Antworten erhalte. Ich bin immer derjenige, der mit dir Video chatten will. Ich schreibe die SMS; versuche dich anzurufen, aber auch da werden meine Bemühungen ignoriert. Ich weiß wir sind nicht zusammen, aber wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir eine Fernbeziehung versuchen können! Du bemühst dich ja nicht einmal den Kontakt zu deinen alten Freunden aufrecht zu erhalten!“
„Kendall, ich -“
„Und jetzt komm mir nicht damit, dass du so viel um die Ohren hast, dass haben wir alle. Oder dass du es besonders schwer hast, weil du dich neu eingewöhnen musst? Für mich sieht es nicht danach aus! Schöne Grüße an deinen Jayden!“
Er zischte den Namen 'Jayden' wie ein Schimpfwort und war keine Sekunde später weg. Sein Gesicht verschwand und ein kleines Fenster teilte mir mit, dass Kendall nun offline war.

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