4. Pain


Im Unterricht konnte ich mich beim besten Willen nicht konzentrieren. Es ging einfach nicht, egal wie sehr ich mich bemühte, es klappte einfach nicht. Immer wieder drifteten meine Gedanken zu Emely, wie sie ausgesehen hatte, als sie mich entdeckt hatte. Wie sie reagiert hatte und immer wieder fragte ich mich selbst. Was bedeutet das jetzt für uns? Was sollte ich als Nächstes tun? Sollte ich überhaupt etwas tun? Was, wenn ich ihr egal geworden war? Wenn sie sauer auf mich war? Wenn sie mich hasste?
Immer mehr Fragen huschten durch meine Gedanken, so schnell, dass ich auf keine einzige Antworten fand. Ich stellte nur Fragen, Antworten hatte ich keine. Die Klingel erlöste mich. Nun konnte ich mich aufs Gehen konzentrieren, versuchen Jayden zuzuhören. Irgendetwas, mich einfach ablenken.
Der Nachmittagsunterricht verlief gähnend langsam und irgendwann kam meine letzte Stunde. Nur noch eine Stunde, Rose, dann hast du es geschafft.
Kurz vor Beginn der Stunde unterhielt ich mich noch mit Mike und July. Ich saß neben Mike und July saß vor uns. Sie hatte ihren Stuhl zu uns umgedreht, sodass wir uns noch unterhalten konnten, bevor der Lehrer kam. Zusammen mit unserem Lehrer Mr Brooks kam noch ein letzter Schüler in den Raum. Wieder war es der Junge von heute Morgen, von der Laufstrecke. Ihn jetzt ganz zu sehen, in voller Montur, war nochmal etwas vollkommen anderes. Seine Jeans saßen perfekt und sein schwarzes T-Shirt betonte sein breites Kreuz und seine Bauchmuskeln, ebenso seine breiten Oberarme. Dieser Mann war heiß, dass konnte man nicht leugnen!
Beinahe sofort erspähten seine Augen meine. Er hatte bemerkt, wie ich ihn gemustert hatte und ein selbstgefälliges Grinsen spielte um seine Lippen. Ein Augenrollen konnte ich mir nicht verkneifen. Das wiederum brachte ihn zum Glucksen. Als er an mir vorbei ging, zwinkerte er mir wieder zu, immer noch das Grinsen im Gesicht. Zwei Reihen hinter mir nahm er Platz, in der letzten Reihe. Nur eine einzige Sitzreihe trennte ihn von mir. Ich drehte mich in meinem Sitz zu ihm um. Er beobachtete mich und als ich mich ihm zu wandte, hob er eine Augenbraue. Ich schenkte ihm ein Lächeln meinerseits und zwinkerte. Ich sah wie er vor Lachen bebte, konnte aber leider nichts über den Lärm hinweg hören. Dann drehte ich mich wieder zu Mike und July.
"Oh mein Gott, dass ist Sam Waistland!", kreischte July.
Es war so eine Art geflüstertes Kreischen, damit nur Mike und ich es hörten, aber dennoch war es ein Kreischen.
"Wer?", fragte ich.
"Sam Waistland, du hast ihm gerade zugezwinkert", meinte July verwirrt.
"Er heißt Sam?", fragte ich.
"Du flirtest mit ihm ohne ihn zu kennen?", fragte Mike anklagend.
Hörte ich da eine Spur von Eifersucht?
"Ich habe nicht geflirtet", stritt ich ab.
"Und ob", grinste July.
Erneut rollte ich mit den Augen.
"Trotzdem: Wieso zwinkerst du ihm zu und er dir, wenn du ihn nicht kennst?", fragte July.
"Ich habe ihn heute Morgen einmal kurz getroffen. Als ich gegangen bin, habe ich ihm zugezwinkert, dann haben wir uns während des Mittagessens kurz gesehen, da hat er dann mir zugezwinkert und keine Ahnung, jetzt ich eben wieder ihm."
Ich zuckte die Achseln, um dem ganzen die Bedeutung zu nehmen.
"Oh man, wie süß, ich fasse es nicht! Und dann auch noch Sam!", freute sich July.
"Wieso? Was ist mit -"
"Miss Carmichael, hätten sie die Güte sich mir zuzuwenden?", fragte Mr Brooks.
Wo der auf einmal herkam war mir schleierhaft. Eben noch waren wir alle vollkommen allein und Mr Brooks kramte am Ende des Raumes in irgendwelchen Schränken und nun stand unser Lehrer schon vorne am Pult.
"Entschuldigen Sie, Mr Brooks."
July rückte ihren Stuhl wieder an den dazugehörigen Tisch und sah geradewegs nach vorn.
"Guten Morgen, Klasse!", begrüßte uns Mr Brooks.
"Mündlicher Leistungsstand", verkündete er. "Mr Kellerhand."
Ein Junge aus der zweiten Reihe mit hellbraunem Haar stand auf.
"Definieren Sie den Begriff Prosa."
"Prosa", wiederholte der Junge und Mr Brooks nickte. "Der Begriff stammt aus dem lateinischen, von dem Wort prorsus oder prosa oratio, dass bedeutet sinngemäß oder gerade heraus. Prosa ist eine Schreibform, wie sie in beispielsweise Romanen oder auch Novellen verwendet wird. Prosa bezeichnet die ungebundene Rede. Also keine Reime wie bei Gedichten oder der Formulierung von Versen. Als prosaisch bezeichnet man eine vergleichsweise trockene, nüchterne Darstellung."
"Sehr gut, Mr Kellerhand, setzten."
Der Junge nickte und setzte sich wieder. Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was er da erzählt hatte.
"Miss Bloom."
Ein Mädchen mit schütterem, blondem Haar stand auf.
"Die Hauptstadt von Neu Seeland?"
"Äh..."
Dieses Äh hielt sie geschlagene 26 Sekunden, was mich zu der Annahme brachte, sie wusste es nicht. Mr Brooks seufzte.
"Wer kann ihr helfen?", fragte er an die Klasse gewandt.
Niemand meldete sich. Zaghaft hob ich die Hand. Normalerweise vermied ich es, mich im Unterricht irgendwie zu beteiligen, aber da ich nichts von dem Stoff konnte, den Mr Brooks abfragte, stürzte ich mich auf die eine Frage, die ich beantworten konnte. In meiner alten Schule hatte ich letzte Woche ein Referat über Neu Seeland gehört und an die Hauptstadt erinnerte ich mich noch.
"Ja", Mr Brooks deutete auf mich mit argwöhnischen Augen.
"Wellington."
"Das ist richtig", bemerkte er verwirrt.
"Kasachstan?", fragte er mich.
Na toll, hier kam meine Prüfung. Ich konnte nur hoffen, dass ich alle kannte.
"Astana", erwiderte ich.
"Bolivien?"
"Sucre."
"Sehr gut."
Und damit war ich aus dem Schneider. Als nächstes kam jedoch jemand, der mich brennend interessierte.
"Mr Waistland", rief Mr Brooks erfreut.
Aber nicht erfreut, als würde er seinen Lieblingsschüler dran nehmen, eher erfreut, seinen schlechtesten Schüler auflaufen lassen zu können.
"Nennen Sie mir mindestens drei Folgen von Osteoporose."
Sam sah kurz zu mir, grinste, zwinkerte und sah wieder zu unserem Lehrer.
"Sinterungen, distale Radiumfraktur, subcapitale Humerusfraktur, Schenkelhalsfraktur, Beckenbruch", zählte er auf.   
Die ganze Klasse sah Sam mit offenem Mund an. Für einen winzigen Moment zuckte sogar die Kinnlade von Mr Brooks, aber er hielt sich im Zaum.
"Und die Ursachen? Nennen sie mir mindestens drei."
"Hormonelle Ursache, also Hyperkortisolismus oder auch Cushing-Syndrom, Hypogonadismus, Hyperparathyreoidismus und Hyperthyreose. Gastroenterologische Ursachen: Malnutrition, Anorexia nervosa oder auch Magersucht, Malabsorption und renale Osteopathie. Und zum Schluss: Immobilisation, sprich eingeschränkte Bewegung."
Allgemeines Gemurmel wanderte durch die Klasse. Von vielen Mädchen kamen gehauchte und verträumte 'Wows'. Sam wirkte mit sich und der Welt zufrieden. Alles sah auf ihn, bis auf mich, ich beobachtete Mr Brooks, wie er sich fragte, wie Sam das alles gewusst haben kann. Er suchte nach einem Anzeichen fürs Betrügen, fand aber keinen Beweis für diese Annahme und das machte ihn ziemlich wütend.
"Sehr gut", presste Mr Brooks langsam zwischen verbissenen Zähnen hervor.
Und dann suchte er sich schnell sein nächstes Opfer. Ich drehte mich nicht um, um zu sehen wie Sam sich wieder hinsetzte. Ich hörte das Schaben seines Stuhl, das genügte. Alle anderen Schüler starrten ihn immer noch mit offenen Mündern an.
Die meisten Schüler konnten bestehen. Manche zwar nur mit Ach und Krach, aber sie bestanden. Nur wenige konnte man als Totalausfälle bezeichnen. Schließlich erlöste uns die Klingel und mein erster Schultag war offiziell vorüber! Schnell kramte ich meine letzten Sachen zusammen, schmiss mir den Rucksack über die Schulter und sprintete beinahe aus der Klasse.
"Rose, warte!", rief Mike.
Ich stöhnte genervt auf und blieb an der Tür stehen. Andauernd tippte ich mit dem Fuß auf den Boden. Wieso war er nur so langsam? Während ich wartete ging Sam an mir vorbei. Wieder zwinkerte er und lachte über mein Verhalten.
"Jetzt komm", drängelte ich Mike.
"Ja ja, jetzt beruhigt dich doch mal", versuchte er mich zu beschwichtigen und kam auf mich zu.
Er war immer noch viel zu langsam. Jedenfalls für meinen Geschmack. Ich riss an seinem Arm und schleifte ihn hinter mir her aus dem Klassenzimmer.
"Wow, was hat dich denn gebissen?", gluckste er.
"Ich bin erst einen Tag wieder hier und schon jetzt fange ich an, an meiner Entscheidung zu zweifeln", maulte ich.
"Wieso?"
"Uh, dieser Tag war einfach viel zu lang. Viel zu anstrengend."
"Awww, arme Rose. Kommen wir mit dem Leistungsdruck nicht klar?"
"Ach, halt die Klappe", lachte ich und boxte ihm gegen die Schulter.
"Hey", machte er ein ernstes Gesicht und deutete mit dem Finger auf mich. "Keine Gewalt!"
"Ja, schon klar", meinte ich sarkastisch.
Wir beide grinsten uns an. Es war als wäre ich nie weg gewesen. Alles war wie früher. Zumindest beinahe. Während Mike schwatzte und uns aus dem Gebäude manövrierte, schweiften meine Gedanken ab. Schweiften zu Emely. Und dann fiel mir Nate wieder ein! So wie Emely meine beste Freundin gewesen war, war Nate so was wie mein bester Freund gewesen, nur das er mehr gewesen war. Wir waren damals noch jung, natürlich, gerade mal 12 und 13, aber wir waren ein Paar gewesen. Nate war mein erster und einziger Freund gewesen und ich hatte ihn, wie alle anderen, hier zurück gelassen. Ich fragte mich, warum ich Nate noch nicht über den Weg gelaufen war. Warum er nicht bei Mike und Jayden war. Warum bisher keiner über ihn gesprochen hatte?
Mit einem Mal blieb ich stehen und sah auf zu Mike.
                  "Was ist mit Nate?", fragte ich.
Mikes Gesichtszüge veränderten sich. Sie wurden härter, gefühlskalt. Er wich meinem Blick aus, seine harten Augen blickten auf das Schulgelände vor uns. Wir waren schon fast bei meinem Wohnheim. Wie hatte ich das nicht mitbekommen können?
                  "Was soll mit ihm sein?"
                  "Seit ich hier bin, habe ich ihn nicht gesehen. Früher wart ihr drei unzertrennlich. Du, Jayden und Nate, das trigonometrische Trio, so hast du euch immer vorgestellt. Obwohl du keine Ahnung hattest, was das bedeutet. Ich frage mich einfach nur wo er ist? Ich meine, ich habe viele noch nicht gesehen, die sicherlich noch hier sind, aber Nate war doch immer im Mittelpunkt bei euch Jungs."
                  "War er", betonte Mike.
                  "Und was heißt das jetzt?"
                  "Er hat sich verändert", stellte er klar und ging weiter.
Anscheinend sollte das die einzige Erklärung bleiben, die ich bekam. Seufzend ging ich Mike hinterher. Ich würde auch so noch früh genug erfahren, was mit ihm war oder es eben selbst herausfinden. Mikes Blick blieb weiterhin hart und unnachgiebig, während wir in mein Wohnheim spazierten. Im Erdgeschoss war unser Gemeinschaftsraum, schon ziemlich gut gefüllt um diese Zeit. Mike ließ sich auf das erstbeste, freie Sofa fallen und seufzend plumpste ich auf den Platz neben ihn. Schlapp, kaputt und ermüdet vom Tag ließ ich meinen Rücken gegen die Lehne prallen.
                  "Und jetzt?", fragte Mike.
Er ließ sich zur Seite gleiten. Seinen Kopf platzierte er auf meinem Schoß und ließ seine Beine über der Armlehne baumeln.
                  "Jetzt gammeln wir hier auf dieser Couch bis Zeit zum Abendessen ist", lachte ich.
                  "Pah, viel zu langweilig!", beschwerte sich Mike.
                  "Gegenvorschlag?"
                  "Hab kein", seufzte er niedergeschlagen.
                  "Hey mes amis", grüßte uns eine überaus fröhliche July und ließ sich auf einen Sessel fallen, der neben der Couch stand.
                  "Hmm", kam es von Mike.
                  "Hey", kam es lustlos von mir.
                  "Was hat euch denn gebissen?", fragte July.
                  "Langeweile", erklärte Mike.
                  "Na dann: Ab ins Buzzer!", verkündete July - nun wieder vollkommen fröhlich - und sprang schwungvoll von ihrem Sessel.
                  "Oh, dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin!", beschwerte sich Mike und schlug sich mit flacher Hand gegen die Stirn. "Genial July!"
Er grinste zu ihr auf und stieß sich vom Sofa ab. Dann ging er auf sie zu, schlang seine Arme um ihre Mitte und wirbelte sie im Kreis. Sie kicherte und krallte sich an ihn.
                  "Ins was?", fragte ich.
Soweit ich wusste war ein Buzzer eine Art roter Knopf, auf den man bei irgendwelchen Quizzen haut. Wie sollte man da hin gehen? Ich vermutete 'Buzzer' war also ein Name, aber wofür?
                  "Ins Buzzer", lachte July, als Mike sie wieder abstellte.
Sie bemerkte meinen fragenden Blick und lachte.
                  "Ach ja, dass kennst du ja gar nicht."
                  "Stimmt!", rief Mike. "Oh man, Rose, dass musst du sehen."
Beide grinsten sie sich an. Was war dieses Buzzer? Disney World?
                  "Was ist dieses Buzzer denn?", fragte ich.
                  "Das Buzzer kann man nicht beschreiben, dass muss man sehen", meinte July und hielt mir ihre Hand hin, um mir aufzuhelfen.
Ich ergriff sie und stand auf. Mike und July sahen mich beide grinsend an. Wahrscheinlich warteten sie auf eine Reaktion, aber ich wusste nicht, was sie von mir erwarteten.
                  "Ich würde uns ja hinführen, aber wie schon erwähnt, kenne ich dieses Buzzer nicht und weiß folglich auch nicht wo es ist."
Beide lachten. Sie legten beide jeweils einen Arm über meine Schultern und führten mich aus dem Wohnheim.
                  "Hey, was ist mit unseren Sachen?", fragte ich.
                  "Ach ja", bemerkte July.
Sie drehte sich um und durchsuchte den Raum nach irgendwem. Nach einer kurzen Weile entdeckte sie, wen sie suchte.
                  "Eli", schnippte sie mit den Finger. "Komm mal her."
Ein kleiner Junge am Ende des Raumes sah zu uns rüber. Als er erkannte wer nach ihm rief, wurden seine Augen groß und er lief zu uns. Er hatte schwarzes Haar, grüne Augen und seine Haut war sonnen gebräunt. Als er July sah, leuchteten seine Augen voller Staunen und Vergötterung. Er rannte durch den Saal und boxte alles und jeden aus dem Weg, um so schnell wie möglich bei July zu sein.
                  "Ja?", fragte er freudestrahlend.
Jetzt wo er vor mir stand, war er noch ziemlich jung. So an die vierzehn, fünfzehn.
                  "Kannst du diese Sachen für mich in mein Zimmer bringen, bitte? Es ist echt wichtig. Mike und ich müssen Rose hier schnell noch was zeigen vor dem Abendbrot."
July zog eine Schmolllippe, der sicherlich kein männliches Wesen widerstehen konnte. Eli wirkte, als würde er gleich ohnmächtig werden.
                  "In... In... In dein Zimmer?", fragte er staunend.
                  "Ja, wenn es dir nichts ausmacht. Es würde mir echt viel bedeuten."
Eli nickte, als wäre er ein Wackeldackel.
                  "Super, danke! Hier hast du meinen Schlüssel und hier die Sachen. Stell sie einfach irgendwo ab, ja?"
Eli nahm voller Stolz den Schlüssel entgegen und schnappte sich die Sachen.
                  "Danke dir, Eli", lächelte July.
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, winkte ihm noch einmal über die Schulter und schlang wieder einen Arm um meine Schultern. Dann gingen wir gemeinsam aus dem Wohnheim hinaus.
                  "Wer war dein kleiner Fan, July?", fragte Mike.
                  "Eli?", fragte July.
                  "Nein, der andere", lachte ich.
                  "Haha", meinte July sarkastisch.
                  "Ich fand's witzig", kicherte Mike.
                  "Ja, aber deine Meinung interessiert keinen", grinste July.
                  "Wie auch immer. Eli ist der kleine Bruder von Kate. Ich habe Kate mal aus versehen die Hose zerstört. Keine Fragen", warnte sie. "Naja, als Wiedergutmachung sollte ich ihrem Bruder Nachhilfe geben."
Sie zuckte die Schultern und wir ließen das Thema fallen. Plötzlich fing Mike an zu kichern.
                  "Was?", fragte July.
                  "Naja, du bist dir sicher, dass er nicht dein Freund ist, der kleine Eli?", lachte Mike. "Ihr wärt so ein süßes Paar."
Auch ich musste lachen und July sah uns grimmig an.
                  "Entschuldige", kicherte ich immer noch.
Mike und ich versuchten wirklich, dass Lachen zu unterdrücken, aber es ging einfach nicht.
                  "Ok, ist ja gut!", beschwerte sich July und endlich bekamen wir unser Gelächter unter Kontrolle.
Wir gingen um die Schule herum. An der Westseite der Schule prangte eine schwarze Seitentür. Darauf stand in goldenen Buchstaben "Buzzer".
                  "Das ist das Buzzer?", fragte ich ungläubig.
Eine Seitentür der Schule, was konnte dahinter schon sein? Ein alter Lagerraum vielleicht? Der Vorrat an Karten? Vorrat an Essen? Was?
                  "Wart's ab", grinste Mike und trat an die Tür heran.
                  "Willkommen im Buzzer", trällerte July.
Mike drückte die Klinke hinab und öffnete die Tür. July trat gleich hindurch und war verschwunden. Aus dem Inneren hörte man Gelächter und viele Gespräche. Noch sah ich nichts, da hinter der Tür zwei große, dunkle Samtvorhänge hingen, die die Sicht versperrten.
                  "Komm", forderte Mike lächelnd.
Er deutete mit dem Kopf hinein und ging selbst durch die Vorhänge. Ich schüttelte den Kopf. Was konnte schon passieren?, sagte ich mir und ging ebenfalls durch die Tür.
Ich staunte nicht schlecht. Das Innere bestand aus ein paar alten Klassenräumen, obwohl man sie kaum noch erkannte. Wenn man den Raum genau betrachtete mussten es mindestens vier oder fünf Räume sein.
Die eine Hälfte war mehr so eine Art Wohlfühlzone. In der Hälfte standen sehr einladende Sofas und Sitzsäcke. Überall waren viele bunte Kissen verteilt und viele Teppiche lagen auf dem Boden. Die Einrichtung wirkte sehr teuer. In diesem Raum gab es aber nicht, wie in den Gemeinschaftsräumen, irgendwelche Fernseher. Hier waren nur die Sitzgelegenheiten. Die meisten Sofas und Sitzsäcke waren besetzt. Generell war der Raum ziemlich voll, aber nicht überfüllt.
In der anderen Hälfte war eine große weite Fläche in der Mitte. Dort lag Laminat aus und ein paar Paare tanzten darauf. Am Rand davon stand am hinteren Ende eine Bar mit Barkeeper, der gerade irgendeinen Drink mixte. Wie ich annahm alkoholfrei. Neben der Bar war ein großes Mischpult, Anlage und so weiter. Ich kannte mich nicht mit so etwas aus, aber es sah wie das Paradies eines jeden DJ's aus. Die Anlage spielte Musik für die Tanzpaare. Zwischen den beiden Hälften war eine Glasfront, die man entweder ganz schließen konnte, sodass zwei Räume existierten oder ganz öffnen, sodass es nur ein großer Raum war. Im Moment war die Glasfront geschlossen. Man hörte die Musik nur sehr, sehr leise und auch nur, wenn man darauf achtete. Hier, in dieser Hälfte bestand die Geräuschkulisse aus Gesprächen.
Ich sah mich nach bekannten Gesichtern um. July war sofort in der Menge aufgegangen und saß nun bei einer Gruppe Mädchen. Eines davon zeigte gerade eine Handtasche herum. Nein, danke.
Mike stand neben mir und ließ mich, mich umsehen. Ich sah mir jeden Schüler hier genauer an und versuchte zu erkennen, ob ich jemanden kannte. Ich kannte sogar einige. Die meisten wirklich nur vom sehen, einfache Klassenkameraden, aber keine Freunde. Ich sah sie und sie mich, aber das war's auch schon. Bei einem Gesicht allerdings blieb ich hängen. Er sah mich nicht. Er war umgeben von Jungen und Mädchen, die ihm lauschten, wie er eine Geschichte zum Besten gab. Seine Haare waren immer noch goldblond, und fiel Sonne auf sie, schimmerten sie wie flüssiger Honig. Er hatte keine Locken mehr. Seine Augen besaßen immer noch dieses strahlende blau, dass einen sofort ans Meer erinnerte. Seine Haut war braun von der Sonne, als käme er gerade aus dem Urlaub. Dort saß Nate.
Mike bemerkte, wie sich mein Gesichtsausdruck veränderte, als ich Nate dort sitzen sah und er folgte meinem Blick. Beinahe zeitgleich bemerkte einer von Nathans Freunden uns. Er sagte etwas zu Nate und deutete mit dem Kopf in unsere Richtung. Nathan unterbrach seine Geschichte und sah zu uns. Wie ich es heute schon bei jedem gesehen hatte, weiteten sich seine Augen als er mich sah. Seine Gruppe tat es ihm nach. Alle drehten sich um und gafften mich und Mike an.
Für die anderen interessierte ich mich nicht. Ich sah keinen von ihnen an. Dort hätten genauso gut George Clooney und Johnny Depp sitzen können, ich hätte es nicht bemerkt. Meine Aufmerksamkeit galt Nate. Wartend blickte ich ihn an, aber es veränderte sich nichts. Aus geschockten, geweiteten Augen sah er mich an.
                  "Habt ihr kein Privatleben?", blaffte Mike und trat vor mich.
Mein Blickkontakt mit Nate war beendet. Plötzlich wurde mir heiß und kalter Schweiß bildete sich in meinem Nacken. Ich war dankbar für die Unterbrechung. Über Mikes Schulter hinweg konnte ich sehen, wie sich die Schüler wieder weg drehten. Nur Nate nicht. Er erhob sich, sein Blick weiterhin auf mir, und kam auf uns zu. Seine Freunde wollten mitkommen, aber er bedeutete ihnen sitzen zu bleiben. Schließlich hielt er genau vor Mike an. Wieder baute sich Mike vor mir auf, sodass Nate auf ihn sah und nicht auf mich.
                  "Mike", sagte er kalt.
                  "Nate", erwiderte dieser, ebenso hart.
Beide funkelten sie sich an, in einer Art Blickduell. Ich würde unbedingt herausfinden müssen, was da vorgefallen war.
                  "Geh zur Seite", forderte Nate.
                  "Nein", antwortete Mike mit fester Stimme.
Beide Mienen verfinsterten sich und ich hatte ein schlechtes Gefühl, ein sehr schlechtes Gefühl, dass das hier nicht gut ausgehen würde. Ich versuchte zu sprechen, aber meine Kehle war staubtrocken und ich bekam kein Wort heraus. Meine Stimme versagte und auch meine Glieder verharrten starr in ihrer Bewegung.
                  "Geh zur Seite", knurrte Nate bedrohlich und ging einen weiteren Schritt auf Mike zu.
                  "Gibt's hier ein Problem?", fragte Jayden laut und stellte sich neben Mike.
Er warf einen Arm über Mikes Schulter und beäugte Nathan abschätzend.
                  "Jayden."
                  "Nathan."
Beide nickten sie einander auf eine merkwürdige Weise zu. Eine Art zu sagen 'Ich kann dich nicht leiden, habe aber einen gewissen Respekt vor dir'.
"Sag deinem Hund er steht mir im Weg", blaffte Nate.
Erschrocken sah ich auf. Zwar sah ich nicht wirklich etwas, da Jayden und Mike mich abschirmten, aber dennoch konnte ich Nathans Gesicht sehen. Ich konnte nicht fassen, wie die drei miteinander umgingen. Sie waren beste Freunde! Was war nur passiert?
"Vorsicht!", warnte Jayden und Mike ging einen Schritt auf Nate zu.
Jayden hielt ihn gerade noch rechtzeitig auf.
"Du solltest ihn an die Leine nehmen", meinte Nate überheblich.
Wer war das?, fragte ich mich. Dieser Junge war nicht der Junge, den ich kannte. Gekannt habe. Und mit einem Mal - ich konnte nicht einmal sagen wie es geschah - flogen die Fäuste.
Sowohl Mike, als auch Jayden schmissen sich auf Nate, aber der blockte beide ab. 
„Nate!“
Schnell kam einer von Nathans Kumpel und unterstütze ihn. Der Junge hatte rotes Haar und ich meine wirklich rotes Haar. Eindeutig gefärbt, denn es sah aus wie die Farbe einer Plastikperücke und nicht etwa einer echten Haarfarbe.
„Halt dich da raus du Clown“, knurrte Mike.
„Oder was?“, gab dieser wieder.
Er wollte ebenfalls einen Schritt auf ihn zu gehen, aber nun hielt Nathan ihn zurück.
„Lass gut sein Shane, an denen machen wir uns nicht die Finger dreckig.“
Sofort schwang die nächste Faust und eine Riesen Prügelei entstand.
"Aufhören!", schrie ich dazwischen. "Seid ihr denn total bescheuert?!"
Keiner von ihnen achtete auf mich, also versuchte ich selbst dazwischen zu gehen. Noch standen die vier Prügelknaben, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis einer von ihnen am Boden lag. Ich sprang einfach in die Mitte und versuchte zwischen die Fronten zu kommen, damit sie voneinander abließen. Wie aus dem Nichts schoss irgendein Ellbogen hervor und traf meine Nase mit voller Wucht. Der Aufprall stieß mich so stark zurück, dass ich auf dem Boden landete. Mein gesamter Rücken schlug hart auf dem Boden auf und kurz danach folgte mein Kopf. Zu guter Letzt fiel ich auch so unglücklich, dass mein Hüfte ebenfalls etwas abbekam. Meine Hüfte knackste und ein grässlicher Schmerz durchfuhr sie. Mein Rücken war noch übersät von blauen Flecken und ein weiterer Aufprall tat da nichts Gutes. Mein Kopf tat weh, war aber mein geringstes Problem. Aus meiner Nase floss Blut und ich stöhnte vor Schmerz, als ich Kontakt mit dem Boden machte.
                  "Rose!", kreischte July und ich hörte ihre Absätze auf dem Boden, wie sie zu mir lief.
Mit einem Mal hörte das Schimpfen, Stöhnen und Grunzen des Kampfes auf und alle starrten sie mich an.
                  "Rose!"
Mit einem mal hockten July, Mike, Jayden und Nate um mich herum. Alle sahen sie mich aus besorgten Mienen an. Sogar der Rotschopf Shane sah mich mit großen Auge an. 
                  "Rose, alles ok?", fragte Jayden.
                  "Tut es sehr weh?", fragte Mike.
                  "Brauchst du ein Tuch?", fragte Nate.
                  "Jetzt haltet doch mal die Klappe!", fuhr July dazwischen und schubste die Jungen aus dem Weg.
Erschrocken über ihren Ausbruch sahen wir sie alle an.
                  "Alles klar bei dir?", fragte July mich besorgt und begutachtete meine Nase.
                  "Ja", nuschelte ich. "Geht schon."
                  "Oh mein Gott, Rose, du blutest!", rief Nate schockiert aus.
Alle sahen sie erst zu ihm und folgten dann seinem Blick, der auf meine Hüfte gerichtet war. Er hatte recht, die Nähte waren aufgeplatzt. Direkt über meinem Knochen klaffte eine große Wunde und ich verlor Blut. Viel Blut.
                  "Rose", keuchten nun auch alle anderen erschüttert.
                  "Ich bringe dich auf die Krankenstation", verkündete Nate und wollte gerade seine Arme um meinen Körper schieben, um mich zu tragen, aber Mike hielt seine Arme in der Bewegung fest.
                  "Fass sie nicht an", keifte er und schubste Nates Arme von mir.
                  "Oder was?", knurrte Nate. "Wäre nicht das erste Mal."
                  "Du kleiner -", begann Jayden, wurde aber unterbrochen.
                  "Genug jetzt!", rief jemand mit tiefer, fester Stimme dazwischen.
Ich nahm die Stimme nur noch am Rande meines Bewusstseins war. Der Blutverlust machte sich bemerkbar und meine Sicht begann zu verschleiern. Meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich sah noch wie die Jungen aus meinem Gesichtsfeld verschwanden, wie July voller Staunen hoch sah und sich jemand schwarzes über mich beugte. Eine große, dunkle Gestalt. Ich hatte Angst. Meine Glieder waren schwer, aber dennoch strauchelte ich, versuchte mich dem Griff zu entziehen.
                  "Nein", wehrte ich ab.
Aber es war ein so leiser Protest, dass man ihn kaum vernahm.
                  "Shhh", hörte ich an meinem Ohr und fühlte, wie ich hochgehoben wurde.
Große, muskulöse Arme schlossen sich um meinen Körper und hievten mich vom Boden. Stöhnend vor Schmerz versuchte ich mich zu wehren, aber mit mäßigem Erfolg. Meine Hüfte schmerzte, der starke Arm unter meinen Beinen drückte gegen meine blauen Flecken und meine Beine durchzuckte Schmerz. Der Arm hinter meinem Rücken tat dasselbe und auch mein Rücken ächzte. Ich spürte wie sich mein Träger bewegte, um es mir leichter zu machen, aber er verschlimmerte es. Meine Augenlider waren so schwer wie Blei und egal wie sehr ich versuchte sie zu öffnen, es gelang mir nicht. Ich wollte darum bitten, mich liegen zu lassen, mir den Schmerz zu erlassen, aber kein Wort kam aus meinem Mund.
                  "Shh, wir sind gleich da", flüsterte jemand an meinem Ohr.
Ein kalter Schauder lief meinen Rücken hinab und mit einem letzten schmerzerfülltem Stöhnen wurde alles schwarz.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen