8. Territory


Die Nacht über lag ich wach da. Zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf hin und her und ließen mir keine Ruhe. Egal wie sehr ich ihn herbei sehnte, der Schlaf wollte mich nicht übermannen.
Schlussendlich gab ich es also auf und verließ mein Bett. Ich zog mir ein Tanktop über und meine Shorts an, dann band ich mir meine Laufschuhe zu. Im Bad fand ich noch ein kleines Handtuch, dass ich mitnahm, zusammen mit meiner Wasserflasche.Danach verließ ich das Wohnheim und machte mich auf den Weg zur Laufbahn. Dort angekommen, schmiss ich meine Sachen einfach an den Rand und begann mich zu dehnen.
Meine Hüfte war verheilt, zumindest laut Dr. Kell. Sie hatte gesagt, ich könne heute wieder am Sport teilnehmen, also musste sie wohl verheilt genug dafür sein. Aber um sicher zu gehen, ließ ich das Pflaster noch dran. Beim Dehnen spürte ich ein leichtes Ziehen, aber es war nicht schmerzhaft, also dachte ich mir auch nichts dabei.
Meine Beine waren inzwischen nicht mehr blau, sondern ganz normal. Es war eine Weile her, dass ich meine Beine so gesehen hatte und die Aussicht darauf, dass meine Beine fleckenlos bleiben würden, ließ mich lächeln. Mein Körper war beinahe vollkommen verheilt und ich sah aus wie alle anderen hier. Natürlich ein zwei blaue Flecken hier und da, bedingt durchs stetige Training. Endlich passte ich hier auch äußerlich wieder rein. Äußerlich, war ich wieder Rose und Lia war Vergangenheit.
Ich begann langsam um die Bahn zu joggen. Es war noch mitten in der Nacht, keine Ahnung wie spät genau, auf die Uhr hatte ich nicht gesehen. Man sah die Hand vor Augen kaum, noch weniger die Bahn. Aber es war genug Licht, sodass ich zwar meine Fußabdrücke nicht erkennen konnte, aber Schattierung zwischen Laufbahn und Gras.
Irgendwann während meines Laufens wurde ich schneller, sprintete Runde um Runde. Ich zwang meine Beine schneller zu laufen. Ich spürte wie sie protestierten, aber ich musste schneller sein. Noch schneller, ich war zu langsam! Keine Ahnung woher der innere Drang kam, aber es war als würde ich vor meinem alten Leben weglaufen und ich musste einfach. Weg, so schnell wie möglich. Mein Atem wurde keuchend, meine Flanken schmerzten, mein Hals wurde trocken und meine Lungen forderten immer mehr nach Luft. 
Dann überquerte ich endlich die Ziellinie und lief langsam aus, verfiel in ein leichtes Joggen, hin zu meinen Sachen. Direkt daneben ließ ich mich ins Gras fallen. Meine Wasserflasche leerte ich beinahe ganz in drei schnellen Zügen. Mit dem Handtuch wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.
Vor mir konnte ich beobachten wie die Sonne aufging. Sie erhellte die Laufstrecke und machte meine Bahnen sichtbar für meine Augen.
Zwar konnte ich nicht abzählen wie viele Runden ich gelaufen war, aber ich war mir sicher, dass es mehr als sonst gewesen waren.
Schwer atmend blieb ich auf meine Ellbogen gestützt liegen und beobachtete die Sonne. Beobachtete die Strahlen, wie sie langsam hinter den Bäumen hervorragten, sich streckten und die Welt erhellten.
Ich bewunderte das Spiel von Licht und Schatten zwischen den Bäumen und den seichten Morgennebel, wie er langsam verebbte. Es war eine bildschöne Szenerie, die sich vor meinen Augen abspielte.
"Schon so sportlich am frühen Morgen?"
Jemand ließ sich neben mir ins Gras fallen, platzierte sich dabei in voller Länge neben mir und sah mich fragend an.
"Was willst du hier, July?", fragte ich verwundert.
July war kein Morgenmensch, ist sie noch nie gewesen und würde sie wahrscheinlich auch niemals sein. Das machte ihr Auftauchen hier zur Zeit des Sonnenaufgangs umso merkwürdiger.
"Ich habe nach dir gesucht, du warst nicht in deinem Zimmer", stellte sie fest. „Also dachte ich, du wärst vielleicht laufen.“
Der Gedanke, dass sich auch hier wieder eine gewisse Morgenroutine ergab ließ mich lächeln. Ich war froh darüber, dass July wusste wo sie mich finden könnte.
"Was gibt's?", fragte ich und ließ mich gänzlich ins Gras fallen.
Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.
"Du warst gestern so schnell weg, ich wollte wissen, wie es dir geht?"
Freudlos lachte ich auf und schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
"Wie soll es mir schon gehen?", fragte ich, ohne eine echte Antwort zu erwarten.
"Was hast du jetzt vor?", fragte sie.
Ich hörte wie auch sie sich ins Gras legte und ich spürte ihren Blick auf meinem Gesicht. Dennoch öffnete ich meine Augen nicht.
"Nichts", meinte ich verwirrt und sah zu July. "Wieso? Was sollte ich denn vorhaben?"
"Na du solltest dir etwas einfallen lassen. Wegen Melanie, meine ich."
Ihr Gesichtsausdruck war entschlossen und wild. Sie konnte Melanie nicht leiden, dass war mehr als deutlich zu erkennen. Keine Ahnung was sie von mir erwartete, aber sicher nicht mein tiefes Einatmen, denn sie zog die Stirn kraus.
"Vergiss es July, auf so einen Kleinkrieg werde ich mich nicht einlassen", stritt ich ab.
Ich sprach mit ruhiger Stimme, um ihr klar zu machen, dass ich es ernst meinte.
"Du willst ihr Kampflos das Feld überlassen?!", kreischte sie und setzte sich auf.
Sie sah von oben auf mich herab und sah mich an, als hätte ich gerade das Dümmste gesagt, das sie je gehört hatte.
Ich setzte mich ebenfalls auf und sah sie verwundert an.
"Welches Feld?"
"Welches Feld? Welches Feld?“, äffte sie mich nach. „Dieses Feld! Die gesamte Schule, verdammt nochmal!"
July gestikulierte wild mit den Armen und auf ihrer Stirn trat eine Vene hervor, die vor Zorn zu pulsieren schien.
"July, vergiss es“, winkte ich ab. „Sie kann sie haben. Ich habe meine Freunde und das genügt. Ich habe keine Lust auf diese Zickenkriege!"
July stöhnte genervt.
"Schön, wie du meinst."
"Danke", lächelte ich.
"Wofür?", fragte sie erstaunt und hob eine Augenbraue.
"Dafür, dass du meine Freundin bist. Trotz allem."
Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd und schlang ihre Arme um mich. Lachend schlang ich auch meine Arme um ihre Mitte.
"Okay, jetzt aber Frühstück, ich hab Hunger", grinste July und stand auf.
Sie hielt mir eine Hand entgegen und ich ergriff sie. Bevor ich zum Frühstück wollte, wollte ich mich erst einmal duschen und July verstand das. Sie lieferte mich bei meinem Zimmer ab und versprach mich beim Frühstück zu treffen. 
Während ich unter der Dusche stand, versuchte ich mich zu entspannen. Es gelang mir nicht. Der gestrige Tag blieb in meinem Gedächtnis, nicht nur die Auseinandersetzung mit Melanie, das Verhalten von Nathan, Sam oder auch Mike. Auch meine Unterhaltung mit Kendall und diese Männern, die nach mir gefragt hatten. Ich konnte mir immer noch keinen Reim auf das Ganze bilden. Wer waren sie und was wollten sie von mir? Woher wussten sie, wo sie nach mir zu suchen hatten? Woher wussten sie, wer meine Freunde waren?
Irgendwann bemerkte ich wie meine Finger schon runzlig wurden und ich stieg aus dem heißen Wasserstrahl. So schnell wie möglich zog ich mich um, da ich schon genug Zeit in der Dusche verplempert hatte. Ich zog mir eine dunkelblaue, eng anliegende Jeans an. Dazu ein weißes Top auf dem in schwarzer Schrift "Back Off" stand. Meine Locken bändigte ich in einem Pferdeschwanz, noch etwas Mascara und ich war bereit fürs Frühstück.
Der Speisesaal war schon gefüllt, und viele Schüler waren sogar schon fertig und unterhielten sich nur noch an den Tischen. Die Dusche hatte mich doch mehr Zeit gekostet als erwartet. Dafür war die Essensschlange ziemlich kurz. Schnell reihte ich mich ein, kaufte mir mein Essen und suchte nach July in diesem Wirrwarr aus Schülern. Ich war vielleicht gerade mal drei Schritte von der Ausgabe weggegangen als mein Tablett hochgeschlagen wurde, so das mir das Essen ins Gesicht klatschte. Vor Schreck ließ ich das Tablett fallen und es landete scheppernd auf dem Boden.
Mein Frühstück klebte an meinem Gesicht und brannte in meinen Augen, weshalb ich diese Zusammenkniff und nichts und niemanden um mich herum sah.
"Rose", lachte eine glockenförmige Stimme neben mir. "Du hast da etwas im Gesicht kleben."
Verärgert riss ich die Augen auf, drehte ich mich um und sah Melanie. Sie grinste mich hämisch an. Links und rechts von ihr standen zwei Mädchen, die ich nicht kannte. Sie sahen jünger aus als Melanie, wahrscheinlich Mitläuferinnen. 
Wundern sollte es mich wahrscheinlich nicht, dass Melanie mir mein Essen ins Gesicht klatschte, aber ehrlich gesagt, dass tat es doch ein wenig. Das sie zu solchen Mitteln greifen würde, hätte ich nicht gedacht. Niedere Gerüchte über mich, ja, aber so etwas, nein. 
Der Fleischsalat, der vorher auf meinem Sandwich gewesen war, klebte in meinem Gesicht. Mein Joghurt in meinem Haar. Es war kalt, schmierig und einfach nur eklig. So ziemlich alle starrten mich und Melanie an und begannen zu lachen. Es war ein beschissenes Gefühl ausgelacht zu werden und nichts tun zu können. Aber Melanie damit ungestraft davon kommen lassen? Nein, niemals!
"Was ist dein Problem?!", fuhr ich sie also an.
Melanie hatte offensichtlich damit gerechnet, dass ich ihr etwas erwidern würde, denn sie zuckte nicht einmal mit der Wimper.
"Du", zuckte sie überheblich die Achseln.
"Ich kann dich auch nicht leiden", stellte ich klar. "Dennoch erlöse ich mich nicht von deinem Anblick, in dem ich dir Essen ins Gesicht schmeiße!", rief ich aufgebracht.
"Was denkst du eigentlich wer du bist?", regte sich Melanie auf.
Wer ich bin? Was sollte das denn jetzt? Dieses Mädchen war doch nicht mehr ganz klar im Kopf!
"Was denkst du, wer du bist?", gab ich zurück.
"Jetzt hör mal, Neue!" 
Sie wusste genau, wie ich hieß, wollte aber klar machen, wie cool sie ist. Dass sie die Schulkönigin war und ich nur irgendein Störenfried, dessen Namen sie nicht kannte. Ich war eine Fliege auf ihrer Windschutzscheibe, mehr nicht. Na das sollten wir ändern! 
"Du magst hier zwar früher mal eine große Nummer gewesen sein, aber dem ist nicht mehr so!“, baute sich Melanie weiterhin vor mir auf. „Diese Schule gehört mir! Sage ich: Verpfeif dich! Dann hast du zu verschwinden oder du bereust es!"
Jetzt sah ich rot und mein Geduldsfaden riss! Das war jawohl nicht ihr ernst?! Sie kannte mich nicht und ich kannte sie nicht, aber das war mir egal. Ich war mir ziemlich sicher, dass mit der Wut in meinem Bauch ich sie locker besiegen könnte. Außerdem ließ ich mir von niemandem, wirklich niemandem etwas vorschreiben.
"Und jetzt hörst du mir mal zu, Püppchen", knurrte ich. "Droh mir lieber nicht, du weißt nicht wer ich bin oder wozu ich fähig bin. Du weißt nicht was ich bisher alles durchmachen musste. Und ein kleines Blondchen wie du, kommt mir nicht in die Quere! Ein kleines Blondchen wie du, droht mir nicht. Und du kleines Blondchen wirst von mir jetzt mal in deine Schranke gewiesen. Komm mir krumm und ich mach dich fertig!"
Melanie begann zu lachen und sich übertrieben nach vorn zu beugen, um den ganzen mehr Ausdruck zu verleihen. Ihre zwei Freundinnen kicherten neben ihr, aber ich konnte in ihren Augen die Furcht vor mir sehen.
"Das ich nicht lache. Du drohst mir?", lachte Melanie immer noch geheuchelt.
Mein funkelnder Blick sagte mehr als tausend Worte und das bemerkte auch sie, aber es war ihr egal. Sie ließ sich nicht beeindrucken und das musste ich ihr zugute halten.
"Trau dich, Schlampe", zischte sie und baute sich erneut vor mir auf. "Trau dich."
Mit ihren hohen Absätzen überragte sie mich, aber Angst machte sie mir keine. Durch ihr weißes Kleid und ihren pinken Gürtel, zog ich sofort wieder den Vergleich zu einer Barbiepuppe. Eine Barbiepuppe, nicht nur äußerlich, da war ich mir sicher. Sie sah nicht gerade schlau aus und ich fragte mich ernsthaft was sie an dieser Schule machte. Viel Sport, Schweiß, Nägel brachen ab, nichts deutete bei ihr auch nur daraufhin das sie sich jemals körperlich betätigte. Allerdings war ich schlau genug sie nicht zu unterschätzen, aber im Moment sah ich rot und wollte ich ihr eine kleben. Ich wollte, dass sie die Grenze überschritt und sie mir einen Grund lieferte zu zuschlagen! 
"Nenn mich noch einmal Schlampe und sieh was passiert", flüsterte ich bedrohlich und ging ebenfalls einen Schritt auf sie zu.
Melanie grinste selbstsicher und höhnisch. Sie streckte ihr Rückgrat durch und blickte mich zuckersüß lächelnd an.
"Sch-"
Aber weiter kam sie nicht, denn schon hatte meine Faust ihre Nase getroffen und sie flog rücklings zu Boden. Ich hörte ein befriedigendes Knacken und wusste, ich hatte ihr die Nase gebrochen. Aus Melanies Nase kam ein wahrer Wasserfall an Blut. Sofort kamen die beiden Mädchen, die neben ihr gestanden hatten, zu ihrer Hilfe und richteten sie auf.
Sobald sie stand, trat ich noch einen Schritt näher an sie heran und sie wich kaum merklich zurück, versuchte aber es so gut wie möglich zu überspielen. Schließlich sah uns die halbe Schule zu, und sie wollte hier als Gewinnerin rausgehen.
"Wie war das?", fragte ich und hob beide Augenbrauen. "Ich hab dich nicht ganz verstanden."
Sie funkelte mich böse an und eine ihrer Mitläuferinnen wollte einen Schritt auf mich zugehen, doch überraschenderweise hielt Melanie sie zurück und schüttelte den Kopf. Melanie warf ihr blondes Haar über die Schulter, verdeckte mit der anderen Hand ihre blutende Nase und deutete den Mitläuferinnen zu gehen. Gemeinsam verließen die drei die Mensa und tuschelten irgendetwas darüber was für ein Psycho ich doch war. Mir konnte es egal sein.
Ich spürte mehrere Blicke im Rücken, doch ignorierte sie. Was sollte ich schon machen? Ich hatte eine Mitschülerin geschlagen, ich konnte froh sein, wenn mich kein Lehrer erwischte. Außerdem besaß ich immer noch mehrere Essensreste in den Haaren.
Also drehte auch ich mich schnell um und stürmte aus der Mensa. Schnell ging ich zur nächsten Schultoilette und positionierte mich vor dem Spiegel. 
"Ugh", stöhnte ich verzweifelt als ich mich im Spiegel sah.
Der Joghurt in meinen Haaren war schon zu einem gewissen Teil getrocknet und verklebte meine Haare. Der Fleischsalat auf meiner Haut sah auch nicht gerade gut aus. Mein Shirt hatte auch mehrere Essensreste abbekommen. Alles in Allem sah ich ziemlich mitgenommen aus. 
Ich stellte den Wasserhahn an und spritzte mir Wasser ins Gesicht. So gut ich konnte schrubbte ich mir das Essen aus dem Gesicht und trocknete mich dann wieder mit Papiertüchern ab. Als nächstes versuchte ich den Joghurt so weit es ging aus meinen Haaren zu entfernen. Es war ein widerliches Gefühl an den Händen, aber immer noch besser, als das Zeug verkrustet in den Haaren zu haben. 
Im Endeffekt stand ich mit nassen Haaren und blassem Gesicht vor dem Spiegel. Die Flecken auf meinem Shirt blieben.
"Soll ich dir helfen?", fragte ein kleines Stimmchen plötzlich hinter mir.
Erschrocken fuhr ich herum. Ich hatte nicht mitbekommen, dass noch jemand hier drin war. Aus einer Kabine schielte ein kleines Mädchen und sah mich aus großen Augen an. Sie sah aus, als wäre sie ungefähr 13 oder 14 Jahre alt. Sie war nicht sehr groß, ungefähr 1,60m. Sie besaß wunderschönes blondes Haar. Es war ein sehr sehr helles blond, beinahe weißblond, aber definitiv nicht gefärbt. Dazu besaß sie grüne Augen. Ein unglaublich tiefes grün, dunkler als jedes grün, dass ich bisher gesehen hatte.
"Ähm ja, danke", meinte ich verwundert.
Das Mädchen hatte mich aus großen, beinahe ängstlichen Augen angesehen. Nun zierte ein kleines Lächeln ihr Gesicht und sie kam auf mich zu.
"Dreh dich mal zur Seite", meinte sie und hielt die Finger unter den Wasserstrahl.
Ich stand mit dem Rücken zu ihr und sie fuhr mit nassen Fingern durch mein Haar. Das sogar etwas so weit hinten gelandet war, hätte ich nicht erwartet, aber anscheinend war es so. Ich war froh, nicht mit Essen im Haar durch die Gegend laufen zu müssen, ohne es überhaupt zu wissen.
"Danke für deine Hilfe", meinte ich.
"Keine Ursache", antwortete sie. "Du bist Rose, oder?"
Sie hatte aufgehört mir durchs Haar zu fahren und ich sah das als Zeichen mich wieder umdrehen zu können. Also sah ich sie an und nickte. 
"Wow", hauchte sie.
Unwillkürlich musste ich leise lachen, als ich sah wie sie mich voller Erstaunen betrachtete. Sie sah mich an, als wäre ich irgendein Superstar und ich hatte Angst sie würde mich gleich nach einem Autogramm fragen.
"Wie heißt du?", fragte ich lachend.
"Ich?", quiekte sie.
"Ja, oder siehst du hier noch jemanden?", lächelte ich.
"Jillian", antwortete sie und wich meinem Blick aus.
"Freut mich, Jill", lächelte ich.
Breit lächelnd guckte sie auf und strahlte mich an. 
"Ich wünschte mich würden alle so nennen", meinte sie dann.
"Jill?", fragte ich.
Sie nickte und ging hinüber zum Papierspender, um sich die Hände abzutrocknen.
"Ja, alle nennen mich immer Jillian, nie Jill. Wahrscheinlich weil meine Schwester mich immer so nennt, sonst würde mich wahrscheinlich niemand kennen. Aber es würde mir besser gefallen, wenn man mich mit Jill anspricht. Dass die Lehrer meinen vollen Namen benutzen ist natürlich irgendwie etwas anderes, aber dennoch."
"Ich weiß was du meinst, deshalb habe ich sie damals dazu gezwungen", grinste ich.
"Du hast was?", fragte sie erschrocken und dreHte sich wieder zu mir um.
"Sie dazu gezwungen", zuckte ich die Schultern. "Ich hasse es wenn mich Leute Rosalia nennen. Die meisten hier haben mich Rose genannt. Die Lehrer natürlich nicht, also habe ich einfach nicht mehr darauf reagiert, wenn sie mich mit meinem vollen Namen angesprochen haben. Die meisten haben mir Strafen gegeben, aber sie bemerkten schließlich, dass ich zu stur war und gaben nach. Heute nennt mich niemand mehr Rosalie, auch kein Lehrer."
"Echt? Wow", erwiderte Jill.
Wieder grinste ich, als sie mich voller Staunen beäugte.
"Sag mal Jill, was machst du hier?", fragte ich. 
Sie zuckte kurz zusammen und wich meinem Blick aus. 
"Zeit totschlagen", wisperte Jill kaum hörbar.
"Wieso?", fragte ich beinahe ebenso still.
Jill seufzte und ließ sich gegen die Wand fallen. Sie lehnte ihr gesamtes Gewicht an die Wand in ihrem Rücken und schloss die Augen.
"Ich habe hier nicht so viele Freunde und gelernt, den anderen aus dem Weg zu gehen. Die Pausen verbringe ich in den Klassenräumen, zur Essenszeit bin ich hier, ansonsten in meinem Zimmer."
Ich spürte den plötzlichen Drang Jill zu umarmen.
"Das tut mir Leid", meinte ich ehrlich mitfühlend.
"Muss es nicht", zuckte sie die Schultern. "Das ist schon immer so gewesen. Selbst mit meinen Eltern. Meine Schwester steht im Rampenlicht und ich bin eine nervige Fliege auf ihrer Windschutzscheibe."
"Aber das heißt ja nicht, dass es so bleiben muss", lächelte ich.
Jill sah mich misstrauisch an. Skepsis war deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen.
"Komm schon. Ich hab immer noch Hunger."
"Du willst da wieder rein?", fragte Jill perplex.
"Was? Nur weil mir jemand ein Tablett ins Gesicht klatscht, heißt das nicht, dass ich nicht wieder in den Speisesaal gehe und normal weiter essen werde. Na ja, nicht wirklich weiter essen, da ich mir etwas neues kaufen muss", grinste ich.
Jill lachte leicht auf und schenkte mir ein kleines Lächeln.
"Kommst du mit?", fragte ich.
Jill willigte ein und gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Ich überredete auch Jill sich etwas zu kaufen, sie nahm zwar nur einen Apfel, aber besser als nichts. Diesmal fand ich July beinahe auf Anhieb in dem ganzen Gewimmel und ging mit Jill auf sie zu.
„Hey, Rose, ich hab gesehen wie -“ Plötzlich unterbrach July ihren Satz und funkelte Jill mörderisch an. „Was willst du denn hier?“
July klang unglaublich drohend und feindselig. Schockiert blickte ich sie an. Jill neben mir war in sich zusammen gekehrt und blickte zu Boden. Sie sah aus, als sei sie den Tränen nahe.
„July“, zischte ich.
Ihr funkelnder Blick wanderte von Jill zu mir und der Zorn verschwand, und wich Verblüffung.
„Hast du eine Ahnung wer das ist?“, regte sich July auf.
„Das ist Jill“, antwortete ich. „Und ich habe sie eingeladen mit mir zu essen, wenn dich das stört, dann tut mir das Leid.“
„Rose, sie ist Melanies Schwester!“, kreischte July aufgebracht. „Du erinnerst dich? Das Mädchen, dass dir eben dein Frühstück ins Haar geschmiert hat!“
„Was?“, fragten Jill und ich verblüfft.
„Das war Melanie?“, fragte Jill verblüfft.
„Du bist Melanies Schwester?“, fragte ich zur gleichen Zeit.
„Ja“, mischte sich July ein. „Deine werte Schwester hat Rose ihr Tablett ins gesicht geschlagen und Rose hat ihr daraufhin eine gescheuert. Verdienterweise!“
„Du hast Melanie geschlagen?“, fragte Jill mit großen Augenbraue.
„Ehrlich gesagt habe ich ihr glaube ich sogar die Nase gebrochen“, gab ich zu.
„Und das war gut so“, zischte July und funkelte Jill weiterhin wütend an.
„Da gebe ich dir recht“, bemerkte Jill vollkommen trocken und sah dabei July an.
Sofort fiel Julys wütende maske und sie sah das kleine Mädchen vor sich voller Unglaube an.
„Wie bitte?“, fragte July.
„Sie hat es verdient. Ich kann meine Schwester nicht leiden. Ich hasse sie nicht, denn sie ist immer noch meine Schwester, aber das heißt nicht das ich sie mögen muss. Sie behandelt mich wie Dreck, schubst mich herum und sorgt dafür das ich hier keine Freunde habe und auch nie welche bekomme!“
Jill redete sich immer mehr in Rage und wurde immer lauter und mit diesem letzten Satz drehte sie sich um zum gehen.
„Warte“, packte ich sie am Handgelenk. 
Jill seufzte und drehte sich ergeben wieder zu mir um. Bevor sie mir in die Augen sah, atmete sie noch einmal tief durch.
„Rose, ich weiß du bist jetzt -“
„Weißt du nicht“, unterbrach ich sie. „Du kannst deine Schwester nicht leiden? Ich auch nicht. Und selbst wenn nicht, du bist nicht deine Schwester, du bist Jill, also: isst du jetzt mit uns oder nicht?“
„Rose, sie -“, begann July.
„Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Geschichten, von wegen sie spioniert uns für Melanie aus oder ich weiß nicht ob sie die Wahrheit sagt, dass ist mir klar und ich gehe das Risiko ein.“
July grinste mich an.
„Ich wollte eigentlich nur sagen. „Rose, sie heißt Jillian und niemand nennt sie Jill“ mehr nicht“, grinste July.
„Aber sie möchte Jill genannt werden“, grinste ich und setzte mich.
Jill nahm neben mir Platz und sofort verfielen July und Jill in eine rege Unterhaltung. July wollte unglaublich viel wissen und durchlöcherte Jill mit Fragen, aber es schien sie nicht zu stören und die beiden führten beinahe die gesamte Unterhaltung allein. Irgendwann hing ich meinen eigenen Gedanken nach und hörte nur noch mit halbem Ohr zu, bis Jill mich an der Schulter rüttelte.
„Hmm?“, fragte ich und sah sie fragend an.
„Alles in Ordnung?“, kicherte sie.
„Wieso?“, fragte ich.
„Ach, keine Ahnung, weil wir in den letzten zwei Minuten nur ungefähr zwanzig Mal versucht haben mit dir zu reden“, grinste July.
„Echt?“, fragte ich schockiert.
Man, war ich wirklich so weg gewesen?
„Rose, nicht schon wieder!“, rief July.
„Ja, sorry, sorry“, schüttelte ich den Kopf. „Was war denn?“
Die beiden warfen sich einen vielsagenden Blick zu und begannen beide zu kichern.
„Was?“, fragte ich. „Habe ich was im Gesicht?
Unsicher wischte ich mit der Hand über mein Gesicht.
„Nein, aber Sam starrt dich wieder an“, kicherte July.
„Sam?“, fragte ich.
July deutete mit dem Kopf hinter mich und ich drehte mich um. An einem Tisch saßen Emely, Nathan, Melanie, Sam, Shane und weitere fünf Menschen, deren Namen ich nicht kannte. Die meisten waren in eine Unterhaltung eingebunden, so wie auch Sam, aber sobald ich ihn ansah, blickte er auf und begegnete meinem Blick. Grinsend hob er eine Augenbraue und sah mich an. Ich lachte auf und zwinkerte ihm zu. Er lachte ebenfalls und das erregte die Aufmerksamkeit von Melanie neben ihm. Sofort folgte sie seinem Blick zu mir und funkelte mich wütend an. Ich verdrehte die Augen und drehte mich wieder zu Jill und July um.
„Das ist Sam“, zischte Jill gerade July über den Tisch zu.
„Mhh-Hmm“, grinste July und nickte.
Es klingelte und wir erhoben uns. Auf dem Weg zum Unterricht erzählte mir July, wie nett sie Jill doch fand. Wie ich im Nachhinein von July erfuhren, war Jill zwei Stufen unter uns und obwohl ich sie für höchstens 14 gehalten hatte, war sie schon 15 Jahre alt. Unsere Wege trennten sich ziemlich schnell wieder und July und ich schleppten uns also gemeinsam zu weiteren fünf Stunden Sport. Glücklicherweise ohne Essen in den Haaren.
In der Umkleide konnte ich mein beflecktes Shirt dann glücklicherweise gegen ein sauberes eintauschen. Ich zog mir ein hellblaues Top an und dazu meine schwarzen Shorts, zufälligerweise trug July heute hellblaue Shorts und ein schwarzes Top. Sobald wir das Outfit des jeweils anderen bemerkten begannen wir zu lachen, da es wirklich nicht geplant gewesen war. Beide banden wir unsere Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und gingen raus in die Turnhalle zu den anderen.
„Na, was gibt’s denn bei euch schon wieder zu kichern?“, kam Jayden breit grinsend, gemeinsam mit Mike, zu uns.
Wir gestikulierten auf das Outfit vom anderen und die beiden beäugten uns, bis sie es bemerkten.
„War das geplant?“, fragte Mike.
„Nein“, kicherten wir.
Wirklich, so witzig war es gar nicht, aber es war viel zu lange her, dass ich gelacht hatte, dass ich es genoss.
„Hey, wir haben gehört du brichst wieder Nasen?“, lachte Jayden.
Er grinste und stupste mich mit der Schulter an.
„Jap“, lachte ich. „Und es hat sich gut angefühlt.“
„Yeah“, meinte Jayden und gab mir einen High-Five.
Auch Mike überhäufte mich mit Komplimenten und sie beide wollten eine detaillierte Schilderung davon haben, wie es sich angefühlt hatte, als der Knochen unter meiner Faust nachgegeben hatte. Es war etwas beunruhigend wie sehr die beiden das ganze begeisterte, aber anders kannte ich die beiden nicht.
„Klasse!“, wurden wir zur Ordnung gerufen. „Mitkommen!“
Da war anscheinend jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden, dachte ich mir. Wir alle nahmen unsere Wasserflaschen und manche auch noch ihre Handtücher und folgten unserem Lehrer hinaus ins Freie.
„15 Runden zum Aufwärmen!“, schnauzte Tom.
Genervt stöhnte die Schülerschar auf.
„Wie war das?“, schrie Tom aufgebracht und starrte uns nieder.
Sofort ließen alle ihre Sachen fallen und joggten auf die Laufstrecke um ihre Runden zu drehen. Laufen war meine zweite Natur, es fiel mir leicht und für mich waren diese 15 Runden ehrlich gesagt keine Strafe. Es war Aufwärmen. Anfangs liefen wir alle in einer Gruppe, gemeinsam als Klasse, aber mir wurde langweilig, also beschleunigte ich meinen Schritt. 
„Überanstreng dich nicht“, rief Jayden mir nach.
„Bloß keinen Neid“, rief ich über die Schulter.
Ich hörte sein Lachen hinter mir und lief schneller voraus. Ich überrundete ein paar meiner Mitschüler und war als erste fertig. Wenige Minuten später kam auch der letzte an und wir dehnten uns.
„Gut, heute beginnen wir mit Wurf“, verkündete Tom, immer noch etwas gereizt.
„Wurf?“, fragte Jayden.
„Ja, Wurf“, rief Tom genervt. „Das sagte ich doch gerade!“
„Entschuldigung“, nuschelte er.
„Was hat der denn?“, fragte er mich, sodass nur ich ihn hören konnte.
Schulterzuckend achtete ich weiterhin auf Tom und fragte mich dasselbe. 
„Dahinten sind Zielscheiben aufgebaut für eine Hälfte der Klasse, die Messer liegen in Körben daneben. Der Rest der Klasse läuft den Parkour dort.“
Er zeigte auf einen aufgebauten Parkour hinter der Laufstrecke. 
„Den Wurf werde ich beaufsichtigen. Der Parkour wird heute früh ebenfalls von Miss Carsons Klasse in Anspruch genommen und ich erwarte gutes Benehmen von euch allen, klar?“ Er begutachtete uns alle mit einem strengen Blick. „Sie wird euch mit jemandem aus ihrer Klasse zusammen tun und ihr versucht als erstes im Ziel anzukommen, klar?“
Wir nickten und Thomas begann uns in zwei Gruppen aufzuteilen. Danach setzten wir uns alle ins Gras und er hielt einen Vortrag. Er zeigte, wie wir die Messer zu halten hatten und wie wir dann anvisieren sollten. Das meiste davon kannte ich schon durch das Pfeil und Bogen schießen, nur die Haltung des Messers kannte ich nicht. Während Thomas also vor sich hin schwafelte, ließen wir uns alle auf den Rücken fallen und sonnten uns. Ich legte meinen Kopf in Jaydens Schoß, schloss die Augen und genoss die Wärme auf meiner Haut. Jayden fuhr mir mit den Fingern gedankenverloren durchs Haar und legte den anderen Arm unter seinen Kopf, um ebenfalls die Sonne zu genießen. Irgendwann war Miss Carson zu uns gestoßen und unterhielt sich mit Thomas. Ich war kurz vorm Einschlafen, als mein Name gebrüllt wurde.
„Kranegrova, wenn sie dann damit fertig sind sich im Schoß ihres Freundes betatschen zu lassen, würde ich ihre Anwesenheit hier drüben sehr begrüßen!“
Sofort schreckten meine Augen auf und ich setzte mich auf. Auch Jayden setzte sich auf und folgte meinem Blick. Miss Carson ging gerade von unserem Standort weg, hin zu ihrer eigenen Klasse. Sie sah nicht einmal zu uns, brüllte mich aber dennoch an, na klasse. 
Meine Mitschüler um mich herum kicherten und ich verdrehte die Augen.
„Soll ich?“, fragte ich an Thomas.
„Ja, Sie und ihre Gruppe folgen Miss Carson“, verkündete er. „Der Rest folgt mir.“
Wir alle erhoben uns und gingen unserer jeweiligen Wege. Als July und ich gemeinsam mit ein paar anderen Miss Carson folgten bemerkte ich wie erheitert ihre Klasse war. Die Mädchen kicherten und die Kerle grinsten mich an. Unter ihnen auch Sam, der mich mehr als nur amüsiert musterte.
„Was, kein Abschiedskuss, Baby?“, rief Jayden mir nach und öffnete die Arme.
„Halt die Klappe“, rief ich ihm lachend zu.
Er pustete mir einen Luftkuss zu und joggte lachend Thomas hinterher, der ihn anschrie sich solche sexuellen Andeutungen für später aufzusparen. July und ich kicherten nur und kamen schließlich bei Miss Carson und ihrer Klasse an.
„Sicher, dass du es ohne deinen Freund schaffst?“, grinste Sam mich an.
„Wieso, bietest du dich an?“, entgegnete ich mit erhobenen Augenbrauen.
Das ich so gerade heraus antworten würde, hatte wohl keiner erwartet. Alle sahen sie mich mit großen Augen an und ich grinste in mich hinein. Die schockierten Gesichter um mich herum waren einfach nur köstlich.
„Was, wenn ich es tue?“, entgegnete Sam lachend.
„Waistland, Kranegrova, Schluss jetzt. Ihr könnt euch nach dem Unterricht auf einander stürzen, jetzt heißt es Parkour laufen, klar?“, rief Miss Carson genervt.
„Oh, das werden wir“, grinste Sam.
„Sicher?“, fragte ich.
„Schluss!“, rief Miss Carson erneut.
Alle kicherten oder glucksten wir noch, aber beließen es dabei.
„Das ist also witzig, na dann Miss Kranegrova, zeigen sie uns doch mal was sie so drauf haben“, forderte sie.
Ich salutierte stramm und joggte dann zum Start. Miss Carson konnte sich ein Grinsen, aber auch ein Augen rollen nicht verkneifen. Alle anderen machten sich daran mir zu folgen und sich gut zu platzieren, um zusehen zu können.
„Waistland, ran da“, rief Miss Carson, da er anscheinend hinterher hing.
Ihre Wortwahl war wohl nicht gerade die Klügste, denn sofort verfielen wieder alle Schüler in schallendes Gelächter. Und auch Sam kam glucksend an gejoggt. Wieder zwinkerte er mir zu und ich konnte nur lachend die Augen verdrehend. Miss Carson lachte auch leicht, wurde dann aber wieder ernst. 
„Na schön, na schön. Riley, an den Start.“
Miss Carson platzierte uns am Start, gab uns noch einige Tipps und gab dann schließlich das Startsignal. Wir sprinteten beide los, dann hieß eine Mauer überwinden. Höchstwahrscheinlich die Mauer, die July gestern erwähnt hatte. Sie war allerdings drei Meter hoch, dennoch spiegelglatt. Ich rannte an der Wand ein paar Schritte hoch und klammerte mich dann am Obersten Rand fest. Dann hievte ich mich hoch und schwang die Beine über die Mauer. Mit einem leisen 'Umph' kam ich auf dem Boden auf und krabbelte unter mehreren gespannten Seilen hindurch. Danach richtete ich mich wieder auf, kletterte eine Leiter hoch und hangelte mich dann von Sprosse zu Sprosse, ungefähr vier oder fünf Meter weit. Dann schwang ich mich über eine Pfütze mir Lehm und kam erneut mit einem Omph auf dem Boden auf. Als nächstes galt es eine Kletterwand zu überwinden und diese dann an einem Seil wieder hinunter zu gelangen. Die letzten 200 Meter bestanden nur aus Laufen, aber ich bemerkte im Boden mehrere graue Punkte. Wahrscheinlich irgendwelche Sensoren oder sonstiges. Außerdem waren hauchdünne Plastikschnüre gespannt, Stolperdraht. So schnell ich konnte sprintete ich auch den restlichen Parkour entlang und versuchte jede Hürde zu umgehen oder darüber hinweg zu springen. Wenige – aber mehr als zehn - Sekunden nach mir kam auch Riley im Ziel an und legte keuchend die Hände auf die Knie. Der Parkour war nicht rund, sodass das Ende nicht bei der Klasse war und wir nun zurück joggen mussten. 
„Komm schon“, grinste ich und klopfte Riley auf den Rücken.
Er war weitaus mehr außer Atem als ich und das gab mir eine gewisse Befriedigung. Gemeinsam joggten wir Seite an Seite zurück zu den anderen.
„Beeindruckend, Rose“, nickte mir Miss Carson zu.
„Danke“, erwiderte ich ihr Nicken.
„Ja, du bist schnell und verdammt flink“, stimmte auch Riley zu. „Aber warum bist du am Ende immer so viele Haken gelaufen?“
Sein Atem kam immer noch keuchend und sein Kopf ziemlich rot, was mir irgendwie Sorgen bereitete.
„Weil da Sensoren im Boden waren und Stolperdrähte.“
„Was?“, fragte Riley und sah fragend auf Miss Carson.
Diese lachte auch und klatschte erfreut in die Hände. Wir anderen hingegen sahen sie verwirrt an. So schlecht gelaunt Thomas heute Morgen war, so gut gelaunt war sie.
„Sehr gut Rose, aber die solltet ihr eigentlich gar nicht bemerken“, lachte Miss Carson begeistert.
„Ähm, 'tschuldigung?“, zuckte ich lachend die Schultern.
„Nein, nein, dass ist beeindrucken“, lächelte Miss Carson.
Sie holte einen schwarzen Gegenstand aus ihrer Hosentasche, nicht größer als ein Handy und tippte darauf etwas ein.
„Riley: 19, Rose: Null“, verkündete sie.
Lachend sah ich zu Riley und er sah mich mit krauser Stirn an.
„Komm schon, auf 200 Meter 19 Sensoren auszulösen ist echt schlecht“, lachte ich.
Er grinste und schubste mich spielerisch zur Seite. Ein paar seiner Freunde stimmten in mein Lachen mit ein, bis Miss Carson die nächsten zwei aufrief und so weiter.
Im Gegensatz zu den anderen, die alle standen und gebannt auf den Parkour starrten, ließ ich mich ein wenig abseits der Gruppe ins Gras fallen und begann von Neuem mich zu sonnen. Ich legte mich aber nicht hin, da ich noch zusehen sollte. Aber für den Moment schloss ich die Augen, stütze mich mit den Händen hinter mir ab und streckte meine Beine aus. Ich genoss die sonne auf der Haut und ließ den Kopf in den Nacken fallen.
„Genießt du die Sonne?“, flüsterte mir plötzlich jemand ins Ohr.
Erschrocken zuckte ich zusammen und schlug die Augen auf. Durch den Schreck gaben meine Arme nach und ich prallte mit dem Rücken flach aufs Gras, was mir für einen Moment den Atem nahm. Sam saß neben mir und sah mir einem amüsierten Grinsen auf mich hinab.
„Du bist ganz schön schreckhaft, hmm?“, fragte er, Grinsen immer noch auf den Lippen.
„Du bist ganz schon dreist, hmm?“, gab ich wieder und setzte mich wieder auf. 
Als ich wieder saß, fiel mir auf wie nah sich Sam an mich heran gesetzt hatte und fragte mich, wie ich das nicht hatte mitbekommen und mich erschrecken lassen können.
„Von Zeit zu Zeit“, zuckte Sam lachend die Schultern und lehnte sich weiter zu mir.
Er sah mich einfach nur an und hatte so ein gewisses Glitzern in den Augen, dass mir ein Schaudern den Rücken hinunter jagte. Aber ich zwang mein Schaudern zurück. Er sollte nicht wissen, was für einen Effekt er auf mich hatte.
„Du bist ziemlich schnell“, bemerkte er.
„Ist mir bewusst“, grinste ich.
Sein Grinsen vertiefte sich, als er bemerkte das ich nicht zurück wich.
„Du hast auch ein ziemlich großes Mundwerk.“
„Das sagt der Richtige“, verhöhnte ich ihn.
Ein kehliges Lachen drang aus dem tiefen seines Rachens.
„Ich frage mich was dieser Mund noch so alles kann“, fragte er sich beinahe selbst mehr als mich.
Seine Augen, die sich vorher in meine gebohrt hatten, sahen nun auf meinen Mund. Überrascht zog ich beide Augenbrauen hoch. Mich warf nicht viel aus der Bahn, aber der Kommentar schon und darauf hatte ich keine bissige Antwort parat. Das schien ihn jedoch nur zu erheitern.
„Vielleicht sollte ich -“, begann Sam nachdenklich und legte den Kopf schräg.
„Waistland!“, unterbrach ihn Miss Carson.
Seine Augen gaben mich frei und er sah auf seine Lehrerin hinter mir. Sein Gesicht bewegte sich nicht, nur seine Augen. Erleichtert atmete ich den Atem aus, den ich unbewusst angehalten hatte. Meine Arme begannen zu zittern und gaben plötzlich nach. Ergeben ließ ich mich nach hinten fallen und atmete tief durch. Ich schloss die Augen und kniff mir in den Nasenrücken. Gott, was war gerade passiert?
„Du solltest zusehen, da kannst du noch was lernen“, flüsterte Sam in mein Ohr.
Ich hörte wie sich seine Schritte entfernten, brauchte aber einen Moment um meine Gedanken zu sammeln. Zwar mochte ich ihn kaum kennen, aber dennoch reagierte mein Körper schon auf ihn. Und das, war mir noch nie passiert. Vor Carl war ich dafür wahrscheinlich einfach zu jung gewesen und jetzt. Jetzt hielt ich mich von so etwas so weit wie möglich fern. Ich hatte keine Schauder vor Vorfreude oder Aufregung, ich hatte Schauder voller Ekel oder Angst. So war es schon immer gewesen und das hier, dass kannte ich nicht. Meinen Körper und seine Reaktionen, verstand ich nicht länger, und ich fragte mich wie ein Körper in so schneller Zeit auf einen anderen reagieren konnte. Nach einem letzten Seufzen ließ ich das Denken gut sein und setzte mich wieder auf. Somit sah ich gerade noch wie Sam und ein Junge aus meiner Klasse starteten. Und so ungern ich es zugab, er hatte recht gehabt. Wenn man ihm zu sah, konnte man noch etwas lernen. Das ein so großer Mann sich so flexibel und grazil bewegen konnte, hätte ich nie für möglich gehalten, aber er bewies mir das Gegenteil. Für die Mauer brauchte er wie ich nicht mehrere Schritte, er sprang einfach hoch und kam mit Leichtigkeit am oberen Ende an. Sogar das Krabbeln unter den gespannten Seilen meisterte er mit Geschick und Präzise und einer unglaublichen Schnelligkeit. Auch alles andere machte er genauso: Schnell, präzise und mit einer gewissen Grazie, die ich beneidete. Ihm Gegenüber würde ich das aber niemals zugeben, sein Ego war schon groß genug, auch ohne meine Hilfe.
Sam kam beinahe eine volle Minute vor seinem Gegner im Ziel an, ebenfalls mit Null Fehlern, wie ich. Während Miss Carson ihm seine Ergebnisse mitteilte, hing sein Blick an mir und er zwinkerte mir zu. Kopfschüttelnd verdrehte ich die Augen und ging mit dem Rest meiner Klassenkameraden rüber zum Wurf, froh von Sam weg zu kommen.

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