3. Rumours

Während der Fahrt unterhielt ich mich anfangs ein wenig mit Kalia, aber es ging nicht über gewöhnlichen Smalltalk hinaus. Schließlich schlief ich ein und erwachte erst wieder durch Kalia selbst.
"Rose, wach auf."
Eine Hand lag auf meiner Schulter und rüttelte mich leicht. Ich grummelte und versuchte sie abzuschütteln. Leise und melodisch lachte Kalia.
"Komm schon, Rose. Du willst doch deine neue Schule sehen."
Das ließ mich die Augen öffnen. 
"Naja, 'neu'", nuschelte ich und rieb mir die verschlafenen Augen.
Kalia grinste nur und blickte auf die Straße.
"Sind wir schon da?", fragte ich immer noch schlaftrunken.
"Fast. In ein paar Minuten."
Ich setzte mich wieder aufrecht hin und streckte Arme und Beine. Dabei knackten einige meiner Knochen. 
"Stört es dich, wenn ich Rose sage?", fragte Kalia.
"Hmm? Wieso?"
"Na, weil dich niemand dort Rose genannt hat."
"Ach so", bemerkte ich niedergeschlagen. "Nein, nein, ist schon ok."
"Wenn du mir die Frage erlaubst. Wieso hat dich dort niemand Rose genannt?"
"Naja" Ich atmete tief durch. "Ich habe nicht sofort gelebt. Aber als sich entschied, dass ich da bleiben sollte begann für mich ein neues Leben. Ein kleines Mädchen hat nach meinem Namen gefragt. Die Frau, die mich damals dort hingebracht hat sagte ihr ich heiße Rosalia. Das Mädchen hat meinen Namen vereinfacht und mich Lia genannt. Mir gefiel der neue Spitzname. Ich wollte dort von vorne beginnen, so gut es eben ging, wollte alles andere hinter mir lassen. Also wurde aus Rose Lia. Niemand kennt mein vollen Namen. Alle kennen mich als Lia."
Ich zuckte die Schultern.
"Bist du dir sicher, dass ich dich nicht Lia nennen soll? Ich kann das verstehen."
Sie lächelte mich mitfühlend an.
"Ich weiß Kalia, aber nein. Auf der Akademie war ich Rose. Bin ich Rose."
Kalia lächelte mich stolz an. Sie hieß meine Entscheidung also gut. Nicht, dass es etwas geändert hätte, würde ihr meine Entscheidung missfallen. Das war meine Sache. Aber trotzdem gefiel es mir so besser.
"Wie spät ist es?", fragte ich.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber sie stand schon ziemlich tief.
"Kurz nach sieben."
"Dann verpasse ich das Abendessen", stellte ich fest.
Kalia lachte.
"Rose, ich würde es nie wagen, dir das Essen vorzuenthalten. Du isst heute auf dem Zimmer."
"Na dann ist ja gut", stimmte ich in ihr lachen mit ein.
Wenig später rollten wir auf den Parkplatz der Akademie. Es sah hier noch alles genauso aus wie früher. Die Akademie war ein riesiges Gebäude mit riesigen, großen Hallen. Die Decken waren sehr hoch und sehr stabil. Aber die Akademie an sich wirkte eher trostlos, kaum Farbe, wenig gemütliches. Viel Stein, viel grau. Dennoch überkam mich ein Gefühl von Heimat, als ich sie nun vor mir sah.
Es war zwar fünf Jahre her, dass ich das letzte Mal hier gewesen bin, aber es kam mir nicht so vor. Nicht wie gestern, dafür war zu viel passiert, aber sicherlich keine fünf Jahre. Mir kam noch soviel bekannt vor.
Die Akademie mit all ihren Geheimnissen, die keiner von uns hatte lüften können. Wir erhielten hier eine der, wenn nicht sogar die beste Ausbildung des Landes. Unsere Eltern bezahlten einen Haufen Geld. Aber warum wir den halben Tag mit Sport verbrachten und es mehr dem Militär ähnelte, dass wusste keiner. Warum wir den Nahkampf erlernten, warum wir lernten mit Waffen umzugehen. Keiner wusste wieso. Auch nicht unsere Eltern. Egal wie viel Geld eine Familie hatte, man konnte sich nicht in diese Akademie einkaufen. Man wurde von der Akademie ausgewählt und den Eltern wird das Angebot gemacht ihre Kinder hier her zu schicken, dabei wird nicht auf das Einkommen geachtet. Die Eltern haben die Wahl, so heißt es, aber mit den schlagenden Argumenten - oder auch Drohungen - der Akademie, lehnt keine Familie das Angebot ihr Kind auf die Akademie schicken zu können ab. Zudem erhalten wir wirklich eine gute Ausbildung. Die Akademie interessiert es nicht wie viel die Eltern genau verdienen, Hauptsache sie bekommen ihr Geld. Die Grundsätze der Akademie: Laufen, Verteidigen, Angreifen. Welcher Grundsatz für uns am Wichtigsten war, war unsere Sache. Später würden wir in 'unserem' Grundsatz mehr gefördert werden, aber soweit war ich noch nicht.
Natürlich hatten schon viele Schüler versucht, herauszubekommen für was wir ausgebildet wurden, aber keiner fand es je heraus. Die Lehrer beantworteten unsere Fragen mit Gegenfragen oder umgingen eine Antwort. Wir blieben unwissend So war es und so würde es immer sein. Trotzdem fragte ich mich, ob einer der anderen schon etwas mehr hatte raus finden können. Oder ob sich am Unterricht etwas verändert hatte, immerhin waren wir nun alle fünf Jahre älter und folglich in höheren Klassen.
Die Wohnblöcke lagen hinter der Akademie. Direkt in dem Schulgebäude wohnten nur die Lehrer und Angestellten. Warum die Aufteilung so lag, habe ich nie verstanden.
"Hat sich nicht viel verändert", stellte ich fest, als das Auto schließlich zum Stehen kam.
"Zumindest nicht Äußerlich", stimmte Kalia zu.
Was sie genau damit meinte, war mir nicht unbedingt klar. Ich ließ es so im Raum stehen und stieg aus dem Wagen. Die kalte Abendluft umgab mich und ich zog meine Jacke enger um mich. Kalia begab sich zum Ende des Wagens und förderte zwei Koffer zu Tage. Ich hätte nicht gedacht, dass ich genug Sachen hatte für zwei Koffer. Kalia bemerkte meinen skeptischen Blick.
"Ich wollte dir eine Freude machen", lächelte sie.
Ich lächelte zurück. Seit langem hatte sich niemand mehr so um mich gekümmert. Sich überhaupt um mich gekümmert.
"Danke."
"Komm, nimm mir mal einen ab", lachte Kalia.
Lachend ging ich zu ihr und nahm ihr einen Koffer ab. Gemeinsam gingen wir los.
"Die Akademie brauch ich dir ja nicht noch einmal zeigen", bemerkte Kalia und steuerte auf die Wohnblöcke zu. "Ich dachte mir, es würde dir gefallen, dein altes Zimmer zu bekommen?"
"Danke", lächelte ich sie wahrhaft dankbar an.
"Die anderen sind gerade beim Abendessen, ich dachte das wäre dir lieber, damit du erst einmal ankommen kannst."
"Danke, Kalia. Du bist die Beste."
Kalia lachte. 
"Du hast dein Zimmer dieses Mal für dich. Es ist aber immer noch genauso groß, ok?"
Mein Gesichtszüge entglitten mir. Damals hatte ich mir mein Zimmer mit Emely geteilt. Wir waren die besten Freundinnen. Wir kannten uns seit dem wir klein waren, aber hatten uns in den letzten fünf Jahren nicht einmal gesprochen oder gesehen. Das lag aber an mir. Ich hatte alle Verbindungen zu meinem alten Leben gekappt. Für meine Freunde sollte ich genauso tot wie meine Eltern sein. 
"Was ist mit Emely?", fragte ich ängstlich.
Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich hören wollte. Aber ich musste es einfach wissen. Was war mit meiner ehemals besten Freundin? 
"Rose, guck nicht so. Es geht ihr gut, sie ist immer noch hier. Aber nachdem du weg warst, wollte sie nicht mehr in eurem Zimmer leben. Zu viele Erinnerungen schätze ich. Es hat ihr damals sehr weh getan, dass du sie verlassen hast. Dass du ihre Hilfe nicht wolltest." Voller Schuldgefühle blickte ich auf die Erde. "Sie hat um ein neues Zimmer gebeten."
"Weiß Em das ich wieder da bin?", fragte ich unsicher.
"Nein", erwiderte Kalia. "Niemand weiß, dass du wieder kommst."
Ich atmete tief ein und langsam wieder aus.
"Gut, ich schätze das ist besser so."
Kalia wirkte mit einem Mal grimmig, als hätte ihr irgendetwas an meinem Satz missfallen. Ich wusste beim besten Willen nicht was, aber ich wollte auch nicht nachfragen. Das Schulgelände war wie ausgestorben. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, zu der das Schulgelände so leer war. Irgendwer war immer draußen. Doch nicht heute Abend.
Den Rest des Weges blieben wir beide still. Kalia wirkte mit ihren Gedanken beschäftigt und ich ließ sie denken. Vor meinem alten Zimmer machten wir halt. Wie oft war ich durch diese Gänge schon gegangen? Wie oft war ich schon durch diese Tür getreten? Wie oft hatte ich sie voller Wut schon zugeknallt?
Kalia stand einfach neben mir, sie machte nichts, stand einfach nur da. Sie sah nicht zu mir, nur auf die Tür vor uns.
"Kalia?", fragte ich in die Stille.
Sie zuckte kurz zusammen und sah mich dann fragend an.
"Der Schlüssel?", fragte ich.
"Ach ja."
Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie ihre Gedanken neu ordnen und wühlte dann ihr ihrer Hosentasche.
"Hier."
Kalia reichte mir den Schlüssel und deutete auf die Tür. Noch einmal atmete ich tief durch. Es war nur ein Zimmer. Ich nahm den Schlüssel fester in die Hand und schloss die Tür auf.
Mein Zimmer sah noch genauso aus wie früher. Beinahe zumindest. Die Dekorationen fehlten. Emely hatte unser Zimmer damals richtig bewohnt aussehen lassen. Jetzt sah es kahl und leer aus, nicht bewohnt. Ich ging ein paar Schritte in das Zimmer und rollte den Koffer hinter mir her. Neben dem Bett stellte ich ihn ab und sah mich um. Ich hielt starr in der Bewegung inne als ich ein Foto entdeckte. Es stand auf dem Regal, gegenüber dem Bett. Langsam ging ich darauf zu und nahm den Rahmen in die Hand. Ich wischte die Staubschicht ab und sah es mir an. Ein trauriges, reumütiges Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Es war ein Foto von Emely und mir. Da waren wir beide acht Jahre alt gewesen. Wir waren von oben bis unten mit Farbe beschmiert und grinsten beide in die Kamera. Ich musste auflachen als ich mich daran erinnerte. Wir hatten Kunst gehabt und sollten eine Kopie des Eiffelturms malen, Maßstabgetreu. Ich hatte mir etwas rot genommen und meiner Lehrerin an den Kopf geworfen. Die anderen Schüler stiegen mit ein und ein wahrer Farbkrieg brach aus. Kalia hatte das Ganze damals unterbunden, vorher aber noch Fotos von und allen geschossen. Auch dieses. Sie gesellte sich zu mir und lachte ebenfalls kurz auf.
"Ich schätze Emely hat es hier gelassen. Vielleicht als eine Art Abschiedsgeste", vermutete Kalia.
"Hat seitdem keiner mehr hier gewohnt?", fragte ich ungläubig.
"Nein, dass Zimmer steht seit Jahren leer", antwortete Kalia monoton und wandte sich wieder ab.
Ich staubte das Foto vollständig ab und stellte es wieder auf das Regal.
"Dein Essen kommt gleich rauf. Wir sehen uns dann morgen. Du weißt noch wann der Unterricht beginnt?"
Ich nickte. Kalia verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Zuerst wollte ich meine Sachen wieder einräumen. Zum Glück war der Rest des Zimmers sauber. Hier sah es zumindest nicht so aus, als hätte hier seit fünf Jahren niemand mehr gelebt. Also verstaute ich meine Klamotten in den Schränken, meine Bücher in den Regalen. Meine Schminkutensilien, Zahnbürste, Zahnpasta etc. verstaute ich im Bad. Zum Schluss stellte ich neben das Foto von Emely und mir, ein Foto von Kelly, Ricky, Kevin, Kendall und mir. Ein Foto von Kelly, Ricky und mir und ein Foto von Kevin, Kendall und mir.
Es klopfte. Ich öffnete die Tür und einer meiner alten Lehrer stand vor mir mit einem Tablett in der Hand.
"Guten Abend Mr Brooks", begrüßte ich ihn.
"Rose?", fragte er vollkommen perplex mit weiten Augen.
Beinahe ließ er das Essen in seinen Händen zu Boden fallen. Ich nickte lachend.
"Sie sehen aus, als hätten sie einen Geist gesehen."
"Das habe ich auch", murmelte er erschüttert.
"Entschuldigung?", fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
"Entschuldigen Sie, aber es gab da einige Gerüchte", meinte er immer noch perplex.
Er sah mich verständnislos an und legte den Kopf ein wenig schief.
"Und die haben Sie geglaubt?"
"Nein, keineswegs“, schüttelte er sofort den Kopf. „Vielleicht hätte ich es mir auch denken können."
"Was meinen Sie?"
"Das Zimmer", lächelte er.
"Stimmt", seufzte ich.
"Ähm, Ihr Essen", bemerkte er und hielt mir das Tablett hin.
"Vielen Dank", nahm ich es an.
Er nickte mir lächelnd zu.
"Ich weiß nicht welchen Umständen wir ihre Präsenz zu verdanken haben, aber ich freue mich Sie wieder zu sehen", lächelte er.
"Danke, Mr Brooks."
Er lächelte ein letztes Mal und marschierte dann wieder den Gang hinunter. Ich schloss die Tür und setzte mich mit meinem Essen an den Schreibtisch. Seufzend nahm ich den Warmhaltedeckel ab und begann allein in meinem Zimmer zu essen. Zwar kam ich mir ziemlich erbärmlich vor, aber jetzt noch hinaus gehen wollte ich auch nicht. Ich hatte schon genug Angst vor morgen früh, wie die anderen reagieren würden. Für viele würde ich einfach 'die Neue' sein. Die anderen kannten mich noch von früher und vor dem, was die sagen würden, hatte ich vielmehr Angst. 
Um morgens möglichst ausgeschlafen zu sein, legte ich mich früh schlafen, aber ich wälzte mich die ganze Nacht nur von einer auf die andere Seite. Mindestens sieben Mal wachte ich in der Nacht auf. Beim achten Mal war es morgens um 5 Uhr. Noch zwei Stunden, dann würde es Frühstück geben, noch drei Stunden, dann würde der Unterricht beginnen. An Schlaf war nicht mehr zu denken, also stieg ich aus dem Bett und zog mir meine Sportsachen an. Bei Ann bin ich beinahe jeden Morgen Laufen gewesen, wieso also nicht auch hier. Hier zwar nicht aus denselben Gründen, aber dennoch. Es war eine gewisse Routine für mich. Also zog ich mir einen Pulli über, nahm mir eine Wasserflasche und schlüpfte in meine Laufschuhe. Dann verließ ich das Zimmer und schlich aus dem Wohnheim in Richtung des Sportplatzes und der Laufbahn.
Dort machte ich ein paar Dehnübungen und lief einfach los. Mein Atem verlief regelmäßig und stabil. Mein laufen wurde gleichmäßig und ruhig. Nach meiner 19. Runde bemerkte ich eine große Person neben meinen Sachen stehen. Ich joggte meine letzte Runde aus und lief zu meiner Wasserflasche.
Es war ein Junge oder auch junger Mann, keine Ahnung wie alt er genau war. Er hatte schwarze Haare, die im Nacken zu einem Zopf gebunden waren. Er war sehr muskulös und bestimmt zwischen 1,95m und 2m groß. Seine Augen waren dunkelbraun und man konnte die Pupillen kaum ausmachen.
Ich nahm ihn zwar zur Kenntnis, aber sagte nichts zu ihm. Alles was ich gerade wollte war Wasser! Schnell schraubte ich die Flasche auf und trank in eiligen Zügen die halbe Flasche aus.
"Durstig?", fragte der Junge.
Ich sah ihn an und setzte die Flasche von meinen Lippen ab. Mehr als ihn anblicken tat ich nicht und er gluckste.
"Das ist eigentlich mein Revier", grinste er und deutete auf die Laufbahn. "Und ich bin mir nicht sicher, ob ich teilen möchte."
Meine beiden Augenbrauen schossen in die Höhe. Zwar wünschte ich, es gelinge mir nur eine Augenbraue zu heben, aber leider war es mir nicht vergönnt.
"Ich habe deinen Namen nirgends gesehen", erwiderte ich.
"Ah, aber du kennst meinen Namen nicht", grinste er süffisant.
"Stimmt", grinste ich.
Ich zwinkerte ihm zu und ging an ihm vorbei zurück zu meinem Wohnblock. Er lachte und ich hörte, wie er begann lachend seine Runden zu drehen. 
Es war eigentlich nicht meine Art, mich so zu verhalten. Nicht mit Fremden, vor allem nicht mit männlichen. Ich hielt Abstand von Ihnen, und das im großen Bogen. Die einzigen männlichen Wesen in meinem Leben waren Kevin und Kendall. Sie waren zumindest die Einzigen in meinem Leben, die ich dort haben wollte. Bei den beiden hat es aber auch Monate gebraucht, bis ich ganz locker mit ihnen umgehen konnte. 
Durch Carl, Kyle und Paul war ich geprägt. Diese Männer veränderten meine Sicht der Dinge.  Ich konnte mich verteidigen, sogar sehr gut, auch gegen Kerle die zweimal so groß waren wie ich. Trotzdem blieben in meinem Hinterkopf immer noch Carl und seine Taten. Und nicht nur Carl, auch seine Söhne in Spe hatten sich Gehen lassen. Zwar konnte ich die meisten bei Ann nicht leiden, aber es gab auch weitaus jüngere bei ihr. 
Tessi zum Beispiel, sie war gerade mal neun. Für sie hatte ich schon einiges über mich ergehen lassen. Tessi musste einmal dran glauben, als ich nicht da war. Ich kam zu spät, aber als ich da war, sah ich rot. Ich stieß Carl weg von ihr, runter von ihrem kleinen Körper und dem Bett. Bekämpfte ihn mit Allem was ich hatte. Ich hätte ihn getötet, hätten mich nicht Kyle und Paul von ihm gerissen. Carl landete im Krankenhaus und ließ seinen nächsten Besuch bei uns ausfallen. Das war das Einzige mal gewesen. Seitdem hatte er bei mir Messer und Ähnliches verwendet. 
Tessi sprach nach diesem Vorfall nicht mehr, nie mehr. Auch nicht mit mir. Sie hatte sich aber jedes Mal bei mir bedankt, nachdem ich einen Besuch auf mich genommen hatte, der eigentlich für sie bestimmt gewesen war. Sie hatte mich umarmt, die Nacht neben mir verbracht und bei mir, in meinen Armen geschlafen. Jedes Mal wachte sie blutverschmiert auf. Mein Blut klebte an ihren Armen und auf ihrer Kleidung. Es war ihr egal. Sie wollte mir danken. Vor zwei Wochen war Tessi gestorben, dumpfe Gewalteinwirkungen. Mich verfolgte immer noch die Schuld, nicht da gewesen zu sein. Sie nicht beschützt zu haben.
Dieser Junge hatte eine gewisse Ausstrahlung, die einem vermittelte, dass er jemanden beschützt. Dass er eine Frau niemals schlagen würde, er würde sie verteidigen. Bisher war ich immer jemand gewesen, der andere beschütze. Für mich hatte das nie jemand getan. Er, er wirkte wie ich. Beschütze andere und stellte deren Glück über das Eigene. Deshalb war er das erste männliche Wesen vor dem ich eine kleine Spur von Respekt empfand, seit fünf Jahren. Ich kannte ihn nicht, nein, aber dennoch. Es war merkwürdig und ich konnte es mir auch nicht erklären.
Das Wohnheim war zum Glück noch leer. Während ich durch die Gänge lief, hatte ich andauernd Angst jemand meiner alten Freunde könnte mich sehen. Ich weiß nicht genau, wieso ich solche Angst hatte, ich hatte schließlich nicht direkt etwas falsch gemacht, aber dennoch hatte ich einfach nur panische Angst, vor was auch immer.
Zurück in der Sicherheit meiner vier Wände stieg ich unter die Dusche und zog mich um für den Tag. Ich schlüpfte in schwarze enganliegende Fetzenjeans. Hinter den Fetzen war ebenfalls Stoff, da ich meine Beine in ihrem jetzigen Zustand, nicht zeigen wollte. Dazu zog ich ein dunkelrotes Top an. Ich fand das passte am besten zu meinem dunkelbraunen Haar und meinen dunkelblauen Augen. Das Top war neu. Kalia hatte es für mich besorgt. Generell hatte sie viele schöne Sachen für mich besorgt, aber alle eher etwas für die spätere Zeit und den Sommer. Dennoch war ich ihr sehr dankbar, dass sie so viele Sachen für mich gekauft hatte. Ich dürfte auf keinen Fall vergessen ihr dafür noch zu danken. Aber warten würde ich müssen, bis meine blauen Flecken vollkommen verheilt wären, um solche Sachen anzuziehen, aber zur Zeit, war es eh noch zu kalt. Dennoch wesentlich wärmer. Hier lag weder Schnee, noch konnte man den Atem in weißen Wolken sehen. Die Temperatur lag auch nicht unter Null. Hier war der Frühling schon eingekehrt und im vollen Gange, Minimum 15 Grad. Es war wirklich sehr, sehr schön. Die Bäume wurden grün, die Pflanzen trugen Knospen und der Himmel war überwiegend blau. Wunderschönes Frühlingswetter.
Ich suchte mir noch neue Sportsachen für die Halle zusammen und stopfte sie in meinen Rucksack, dazu einen Ringblock und ein paar Stifte. Mir kam der Gedanke das Frühstück zu schwänzen. Wo sollte ich mich hinsetzten? Könnte ich mit den Blicken umgehen? Nein, entschloss ich, das Frühstück würde ich heute ausfallen lassen. 
Ich nahm mir ein Buch und wartete auf den Unterrichtsbeginn. Ich legte das Buch schließlich aus der Hand und machte mich auf den Weg in die Sporthalle. Auf dem Weg dorthin sah ich ein paar Schüler, aber keiner achtete auf mich. In der Sporthalle war ich allerdings gezwungen mich umzuziehen, also musste ich zu den anderen Mädchen in die Umkleide. Von draußen hörte ich schon das Gequatsche der Mädchen. Ich wappnete mich innerlich, atmete tief ein und aus und öffnete die Tür. Sofort drehten sich alle zu mir um und wurden still. Ich sah keine an, sah auf den Boden, schloss die Tür und suchte mir einen leeren Platz. Ich begann mich umzuziehen, als mich anscheinend jemand erkannte.
"Oh mein Gott. Rose?!", rief ein Mädchen hinter mir.
Ich drehte mich um und sah wie nur ein einziges Mädchen mich schockiert und mit offenem Mund ansah.
"Nein, bist du das?", fragte sie.
Das Mädchen hatte hellblondes Haar mit wirklich stylischen Strähnchen. Sie hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Sie hatte hellblaue Augen und war um die 1,70m groß.
"July?", fragte ich.
"Oh mein Gott du bist es!", schrie sie und rannte auf mich zu.
Sie schlang ihre Arme um mich und ich blieb erst mal vollkommen schockiert und starr stehen. Klar, ich kannte sie, aber wir waren keine richtig guten Freundinnen gewesen. Wir kannten uns, das war alles. Mit einer so überschwänglichen Umarmung hatte ich nicht gerechnet. Trotzdem war ich irgendwie froh so empfangen zu werden und schlang auch meine Arme um sie. 
"Hey", meinte ich und drückte sie an mich.
Sie ließ ihr Arme sinken und trat einen Schritt zurück, um mich anzusehen. Ich betrachtete sie meinerseits. Sie hatte sich verändert, nicht viel, aber sie war erwachsener geworden. Ihr herzförmiges Gesicht war nicht mehr so kindlich wie früher. Ihre Pausbäckchen waren weg, ihre Nase war schmaler und ihre Kiefer ausgeprägter.
"Du siehst toll aus", sagte ich.
"Du aber auch", lachte sie. "Erzähl, was tust du hier?"
"Zur Schule gehen", lachte ich.
"Echt? Du gehst ab heute wieder hier zur Schule?"
"Jap."
"Seit wann bist du wieder da?"
"Gestern Abend."
"Und du bleibst?", fragte sie immer noch ein wenig skeptisch.
"Solange ihr mich hier haben wollt", stupste ich leicht gegen ihre Schulter.
"Natürlich!", freute sie sich und umarmte mich wieder stürmisch.
"Jetzt lass mich mich umziehen und dann kannst du mich weiter erdrücken, ok?", lachte ich.
July lachte ebenfalls und ließ von mir ab. Die anderen Mädchen hatten uns wahrscheinlich zugehört. Nun sahen mich alle mit großen Augen an. Ich verstand nicht wieso, wollte aber nicht fragen. Die anderen Mädchen hatten sich während meines Gesprächs mit July schon fertig umgezogen und verließen nun die Umkleide. July wartete netterweise noch vor der Umkleide auf mich, bevor sie in die Halle zu den anderen ging. So schnell ich konnte, zog ich mich um.
"Rose", keuchte July, als sie mich sah.
Verwirrt sah ich sie an.
"Rose", hauchte sie wieder.
Entsetzte sah sie mich an und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich sah an mir hinab und verstand was sie meinte. Einige meiner blauen Flecken waren noch nicht verheilt und viele meiner Narben lagen frei. Meine Beine waren mehr blau, lila und Flecken weise gelb. Man musste schon nach einer heilen Stelle suchen, die eine gewöhnliche Hautfarbe hatte. Am schlimmsten sahen eigentlich mein Bauch und Rücken aus, aber die waren glücklicherweise ja bedeckt. Meine Arme sahen schon etwas besser aus, hatten aber immer noch einen großen blauen Fleck auf meiner linken Schulter. Meine Narben wurden von der Farben Vielfalt überdeckt und man sah sie weniger deutlich. Sah man mich nicht zu deutlich an, konnte man sie übersehen.
"Warte mal kurz, ja?"
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging ich wieder in die Umkleide. In meiner alten Schule hatte ich immer daran gedacht, aber heute hatte ich ganz andere Sorgen, als meine Verletzungen zu verstecken. Machte ich allein Sport, zog ich immer Top und kurze Shorts an. Natürlich nur wenn es die Temperatur zu ließ oder es in die Halle ging. Heute ging es in die Halle und ich hatte wieder Top und kurze Shorts an. In der Umkleide tauschte ich jetzt also meine Shorts gegen eine lange Laufhose. Mein Top behielt ich an, da es nur einen großen blauen Fleck zu erklären gab und den könnte ich mir auch bei einem Sturz zugezogen haben. Umgezogen ging ich wieder raus zu July.
Ohne sie zu Wort kommen zu lassen ging ich mit July in Richtung Turnhalle. Davor standen noch einige Mädchen und starrten mich an.
"Hey July", flüsterte ich und zog sie beiseite.
"Hmm?"
"Wieso gucken mich die anderen Mädchen so komisch an?", fragte ich sie.
"Na hör mal, dass weißt du doch", lachte July.
"Nein, wieso?"
"Du weißt es echt nicht?"
"Nein, was denn?"
"Nachdem du die Akademie verlassen hast, kursierten Gerüchte, hunderte. Du warst schon immer im Mittelpunkt der Schule, aber über Nacht sprachen selbst die ältesten Schüler und auch die Lehrer über dich. Es wurde vieles gemunkelt und bis heute bist du hier eine Art Mythos."
"Was denn für Gerüchte?", fragte ich unsicher.
"Die reichen von Massenmorden, zum Abfangen einer Kugel für einen Promi über das Verprügeln von einer ganzen Straßengang, dass du Jagd auf Vergewaltiger und Mörder machst. Drogen, du wärst vergewaltigt und missbraucht worden. Du würdest morden und die Polizei suche nach dir und und und. Diese Gerüchte kursieren seit fünf Jahren musst du bedenken, da kam viel zusammen."
Ich seufzte.
"Ist irgendetwas davon wahr?", fragte July mit leuchtenden Augen.
"Ja", nuschelte ich.
"Hast du deshalb diese..." Sie sprach es nicht aus, ließ den Satz unbeendet und deutete auf meine Schulter.
Ich nickte grimmig und zog ich sie am Arm mit mir in die Turnhalle. Es waren schon ziemlich viele Schüler da, wenn nicht sogar alle. Wie viele hier sein sollten, konnte ich nicht sagen.
"Nein!", rief einer der Jungs.
Alle beisammen drehten sie sich zum Eingang um, in dem ich zufälligerweise immer noch stand.
"Rose?", fragte ein anderer.
"Ach was, dass ist nicht Rose."
"Doch, dass ist sie!"
"Das ist unmöglich!"
Alle riefen sie durcheinander. Ein paar der Gesichter kamen mir bekannt vor, andere hatte ich entweder noch nie gesehen, sie waren mir nie aufgefallen oder hatten sich so sehr verändert, dass ich sie nicht mehr erkannte. Doch einen erkannte ich auf Anhieb und ich musste grinsen. Er stand dort mit großen Augen und offenem Mund. Er sah aus wie ein Fisch, der am Ertrinken war.
"Hey Mike, mach den Mund zu und hör auf mich mit den Augen auszuziehen", lachte ich.
Das Bild an sich ließ mir einen Schauder den Rücken runter laufen, da ich unweigerlich an Carl denken musste, aber ich würde mich nicht davon beeinträchtigen lassen. Ich schluckte. Ich war da jetzt weg. Ich war nicht mehr dort, war nicht mehr bei Carl und Ann. Nun konnte ich wieder für mich kämpfen, wieder 'Ich' sein und niemand würde mir das nehmen! 
Mike blinzelte und schloss tatsächlich den Mund. Die anderen Jungen sahen zu ihm und wieder zu mir. Er grinste und blickte mich kopfschüttelnd an.
"Kannst du es mir verübeln?", grinste er. "Fünf Jahre wurde mir der Anblick versagt und ich hatte nur dieses eine Foto, du weißt schon, dass vom Sommer am See wo du-"
"Ach halt die Klappe, Mike", lachte ich.
"Komm her jetzt!", forderte er.
Ich lachte und ging auf ihn zu. In der Mitte des Weges blieb ich stehen.
"Was? Traust du dich nicht näher ran?", fragte er und kam langsam auf mich zu.
"Pff. Komm mir auf halbem Wege entgegen. Bin ich dein Sklave?"
"Du weißt gar nicht wie sehr ich mir das wünsche", lachte er und kam vor mir an.
Als er nur noch zwei Meter von mir entfernt stand, öffnete er die Arme. Er schlang die Arme um meine Hüften, hob mich hoch und drehte mich im Kreis. 
Vor vier Tagen hatte Carl mir ein Messer in der Nähe des Hüftknochens in den Körper gerammt. Die Wunde war noch nicht ganz verheilt und Mike schloss seine Arme genau an dieser Stelle zusammen. Erschrocken riss ich meine Augen auf, als der Schmerz durch meinen Körper zuckte.
"Lass mich runter, lass mich runter!", rief ich panisch.
Sofort stellte er mich wieder ab, ließ aber seine Arme um meine Hüften. Schnell schüttelte ich sie ab und ging mehrere Schritte von ihm weg. Meine Hüfte, sie schmerzte wie die Hölle. Es würde mich nicht wundern, wenn die Nähte aufplatzten und ich anfangen würde zu bluten. Mein Gesicht war schmerzverzerrt und ich beugte mich ein wenig zur Seite.
"Rose? Alles ok?", fragte Mike sichtlich verwirrt.
Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Atem wurde flacher, hektischer. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber es gelang mir nicht. Der Schmerz ließ nicht nach.
"Rose?", fragte Mike wieder und ging mit einer erhobenen Hand einen Schritt auf mich zu.
"Nein!", rief ich und wich vor ihm zurück. "Alles gut."
Meine Beschwichtigung überzeugte ihn nicht.
"Rose?", fragte July hinter mir und legte mir eine Hand auf die Schulter.
Sie sah mich aus fragenden Augen an. Hinter ihr sah ich andere Schüler, die mich allesamt beobachteten.  
"Alles klar", lächelte ich matt.
Der Schmerz ließ ein wenig nach. Nicht viel, aber er ließ nach. So unauffällig wie möglich, prüfte ich, ob ich blutete. Nein, alles ok.
"Ich bin dran", meldete sich jemand hinter Mike.
Hinter Mike stand ein großer Junge. Braunes Haar und grüne Augen. Muskulöser Körperbau. Kurz gesagt: Jayden.
"Nein, du lebst noch?", lachte ich.
Ich versuchte meinen kurzen Aussetzer von eben zu überspielen, aber Mike und July sahen mich immer noch skeptisch an. Jayden lachte und kam auf mich zu.
"Das sollte ich wohl eher dich fragen", gab er zurück.
Er schlang einen Arm um Mikes Schultern und grinste mich an.
"Ich hab dich vermisst, Rosie", grinste er und wackelte mit den Augenbrauen.
Ich boxte ihn gegen die Brust - hart-, sodass er einen Schritt zurück ging und sich die Stelle an seiner Brust rieb.
"Was?", fragte er zerknirscht.
Voller Zorn funkelte ich ihn an.
"Alter, du hast sie 'Rosie' genannt", lachte Mike.
Ich hatte es schon immer gehasst von anderen 'Rosie' genannt zu werden. So nannten alte Frauen über achtzig jemanden vielleicht und auch dann war es schlimm! Jayden sah Mike erst verwirrt an, dann schien ihm ein Licht aufzugehen und er grinste. Das Grinsen wurde schließlich zu einem kehligen, lauten Lachen.
"Lacht er über mich, Mike?", fragte ich ihn ernsthaft.
"Ich fürchte so ist es."
"Großer Fehler." 
Diabolisch grinsend wandte ich mich mit meinem gesamten Körper zu Jayden.
"Erinnerst du dich an die dritte Klasse, Jayden?", fragte ich und ging Schritt für Schritt auf ihn zu.
"Ja?", gab er unsicher zurück und entfernte sich Schritt für Schritt von mir.
Jeden Schritt, den ich auf ihn zuging nahm er rückwärts.
"Erinnerst du dich an Mikayla?"
Jegliche Gesichtsfarbe wich aus Jaydens Gesicht.
"Rosie", meinte er warnend und hob beide Hände in einer abwehrenden Geste.
Aber zu spät, ich lief auf ihn zu und er so schnell wie möglich weg. Aber nicht schnell genug, ich sprang auf seinen Rücken, er strauchelte und fiel zu Boden, mit mir über ihm. Ich zuckte zusammen, als wieder Schmerz durch meine Hüfte fuhr, aber ich hatte Schmerzen schon früher ignoriert. Hier und jetzt konnte ich es mir nicht leisten, mir irgendetwas anmerken zu lassen.
"Rose, nein. Wehe du machst das jetzt!", rief Jayden.
"Nimm es zurück!", antwortete ich und funkelte ihn bedrohlich an.
"Nein und jetzt steh gefälligst auf!"
Ich grinste in mich hinein. Mikayla war ein Mädchen, das mir in der dritten Klasse den Pudding gestohlen hatte. Für damalige Verhältnisse war das für mich ein halber Weltuntergang. Ich rang sie zu Boden, schmierte ihr Pudding in die Haare und brach ihr während dieser Prozedur die Nase. Es war nicht geplant gewesen, aber war nun mal passiert.
Ich drehte Jayden so schnell wie möglich um und saß nun auf seinem Bauch. Es gab mir ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit, dass ich die Kontrolle über einen Mann hatte, nicht umgekehrt.
"Ich werde jetzt bis drei zählen", warnte ich ihn.
"Rose", warnte er mich erneut.
"Eins."
"Rose, ich mein's ernst. Steh auf."
"Zwei."
Ich hob die Faust und krallte mich mit der anderen Faust in seinen T-Shirt Kragen.
"Okay! Okay!", rief er. "Ich nehm's zurück, ja? Jetzt steh auf!"
Ich hatte das Bedürfnis Jayden jeglichen Schaden zuzufügen, der mir möglich war. Ihn, als Ersatz für alle Männer die mir oder Tessi jemals Schaden zugefügt hatten, aber ich war besser als diese Kerle und tat es nicht. Stattdessen stand ich lachend von ihm auf. Ich hielt ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Er sah mich genervt und wütend an. Ich grinste einfach nur. Schließlich verdrehte er glucksend die Augen und ergriff meine Hand.
"Weißt du? Eigentlich habe ich dich doch nicht vermisst."
"Natürlich hast du das", lachte ich.
"Vielleicht n bisschen", gab er zu und zuckte die Achseln.
"Was soll denn dieses Geturtel hier?", rief auf einmal eine tiefe Stimme.
Jayden und ich drehten uns um, um Thomas Montgomery zu sehen, meinen ehemaligen Sportlehrer. Er war einer der entspannten Lehrer gewesen, den wir auch mit Vornamen ansprechen durften. Früher mochte ich ihn sehr gern. Er war ein sehr strenger und disziplinierter Lehrer, trotzdem einer der Besten.
"Hey Tom. Ist ne Weile her", grinste ich.
"Oh, sie ist wieder da", grinste Mike kopfschüttelnd.
Ich hatte mir noch nie viel aus Formalitäten gemacht. Weder damals, noch heute.
"Rose?", fragte Thomas ungläubig.
Es zeichneten sich deutliche Denkfalten auf seiner Stirn ab, während er grübelte.
"The one and only", lachte ich.
"Wie wahr, wie wahr", murmelte Jayden und legte einen Arm um meine Schultern.
"Sie sind zurück?", fragt mich mein Lehrer.
Jayden, mir war sein Arm mehr als bewusst, da er auf einem blauen Fleck lag, lachte. Ich bemerkte den Druck von Jaydens Arm, aber es tat nicht weh.
"Jap", meinte ich schnell.
"Na, wenn das so ist." Er kam auf mich zu und reichte mir seine Hand. "Willkommen zurück."
Ich nahm seine Hand und bedankte mich.
"Dann wollen wir doch mal sehen, wie gut Sie in Form sind."
Ich hatte gehofft, dass würde mir verschont bleiben, aber so war es offensichtlich nicht.
"Ok Schüler, alle mal herkommen."
Alle tanzten sie wie die Hunde an und sahen zu unserem Lehrer, warteten auf Anweisungen. Währen dessen versuchte ich unauffällig unter Jaydens Arm wegzutauchen. Es fiel ihm glücklicherweise nicht auf.
"Wie vielleicht einige von euch wissen ist Rose schon einmal auf dieser Akademie gewesen. Sie hat sie allerdings vor fünf Jahren verlassen und ist nun anscheinend wieder da. Wir wollen doch mal sehen, wie gut sie nun in Form ist."
Alle Schüler sahen zu mir und dann wieder zu Mr Montgomery.
"Gut, Rose. Womit möchtest du anfangen? Möchtest du die leichte Variante mit Laufen, Liegestützen und dergleichen. Die Mittlere mit Gewichten und Sprinten oder gleich die Königsklasse mit Faustkämpfen?"
"Sie lassen mir die Wahl?"
Er zuckte nur belustigt die Schultern.
"Na dann würde ich auf Nummer sicher gehen und -"
"Königsklasse, gute Wahl", grinste er.
"Ich wusste es!", lachte ich.
"Ok, genug mit den Späßen. Anna, du zuerst. Jungs, die Matten."
Drei Jungen lösten sich aus der Gruppe und bauten die Matten auf. Anna, ein Mädchen das ich nicht kannte, stellte sich mir gegenüber in eine Kampfhaltung.
"Rose, auf die Matte", kommandierte Thomas.
Ich atmete noch einmal tief durch und positionierte mich dann ihr gegenüber. Ich wusste nicht wie sie kämpfte, sie wusste nicht wie ich kämpfte. Für uns beide eine ganz neue Herausforderung. Für mich allerdings mehr, als für sie. Es war lange her, dass ich wirklich gegen jemand anderen gekämpft hatte. Natürlich hatte ich mich so gut es ging fit gehalten. Beinahe jeden Morgen laufen, Gewichte, Sandsack und dergleichen, aber ich hatte nie einen Partner. Ein einziges Mal hatte es Kevin probiert, aber er landete nach nicht mal zwei Minuten auf der Matte mit einem gebrochenen Arm und zwei geprellten Rippen.
"Los!", rief Thomas.
Die übrigen Schüler hatten einen Kreis um uns herum errichtet und warteten nun gespannt auf den ersten Angriff. Eine unserer ersten Regeln an der Akademie hatte gelautet: Ergreife jede Chance, die sich dir bietet. Diesen Vorsatz hatte ich immer beherzigt und ihn auch noch ausgeführt: Ergreife jede Chance, die sich dir bietet, egal wie lange du auf sie warten musst. Musste ich mich selbst oder andere nicht verteidigen, wartete ich immer so lange bis mein Gegner den ersten Schritt tat. Viele behaupteten von sich Geduld zu besitzen und viele hatten Recht. Aber diese Menschen schafften es nicht Stunden still zu stehen und einfach zu warten. Mir gelang es inzwischen. Es hatte Ewigkeiten gebraucht dort hinzu gelangen, aber es ist mir gelungen. 
Anna war geduldig, sie erhoffte sich immer noch, dass ich den ersten Schritt wagen würde, aber das tat ich nicht. Ruhig sah ich in ihre Augen, beobachtete jede ihrer Bewegungen und wartete. Irgendwann wurde ihr offensichtlich zu langweilig und sie entschloss sich zu beginnen. Ein Fehler. Sie trat einen halben Schritt vorwärts, nicht viel, aber mir genügte es. Durch diesen halben Schritt verlor sie ihren sicheren Stand. Während sie diesen Schritt ging, rollte sie mit den Augen. Fehler Nummer zwei. Sie sah mich nicht schnell genug kommen. Hier war meine Chance und ich ergriff sie. Mein Bein schlängelte sich zu ihrem und riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Dass an sich würde sie noch nicht zu Fall bringen, aber mein Arm schoss ebenfalls vor und stieß sie hart gegen die Brust. Mit der Wucht des Schlages hatte keine von uns gerechnet. Anna fiel mit einem Ruck auf den Rücken und ließ ein lautes Keuchen bei ihrem Aufprall vernehmen.
"Nicht schlecht, Rose", beglückwünschte mich Thomas.
Ich lächelte ihn dankbar an.
"Hast du zu Hause irgendwie trainiert?", fragte er mich.
"Jeden Morgen laufen, Gewichte, Sandsack", zuckte ich die Achseln. "So was."
Er nickte zustimmend.
"Weiter geht's!"
Es kamen noch drei weitere Kämpfe auf mich zu, zum Glück alles Mädchen, dann machten wir normal weiter. Bei jedem Kampf konnte ich es vermeiden, dass meine Hüfte etwas abbekam und der Vorfall vom Beginn der Stunde war schnell vergessen. Thomas hatte genug von meinen Fähigkeiten gesehen und offenbar nichts meiner Hüfte bezüglich bemerkt. 
Zusammen liefen wir alle anschließend durch die Turnhalle. Fünfzehn Runden zum Aufwärmen. Dann Sprints von einer Seitenlinie zur Anderen und so weiter. 
Endlich bekamen wir eine Pause! Meine Hüfte schmerzte immer noch und nicht nur die. So viel Sport auf einmal war ich nicht gewöhnt und mit den noch nicht verheilten Verletzungen, wurde das Ganze nicht gerade leichter. Die Pause dauerte nur kurze fünf Minuten, aber besser eine kurze, als gar keine.
Anschließend machten wir einen ganzen Parkour. Wir mussten so schnell wir konnten da durch. Fünfzig Meter Sprint, Stufenbarren überwältigen, zwanzig Meter Sprint, Schwebebalken, zehn Meter Sprint, Tunnel, Kasten, Reck, an einer Wand so hoch wie möglich laufen und gegen eine Glocke schlagen, wieder fünfzig Meter Sprint, über einen Graben Springen und als Letztes einen Zweikampf gegen Thomas.
Nach diesen fünf Stunden Sport waren wir alle mehr als erledigt und waren entlassen zum Mittagessen zu gehen. July quatschte mich in der Umkleide die ganze Zeit voll. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, obwohl ich ihr dankbar war, da sie es mir ersparte allein zum Mittagessen zu gehen. Auf dem Weg dorthin hatte ich immer noch kein Wort gesagt, dafür aber July mehr als genug.
"Hier hat sich nicht viel verändert, hmm?", fragte July plötzlich.
"Nein", lachte ich auf. "Eigentlich nicht. Ein paar Kleinigkeiten. Aber allein das Gebäude hat sich nicht verändert. Höchsten die Menschen."
"Ich hoffe, dass war positiv gemeint", lachte July.
Ich lächelte um ihr zu bedeuten, dass ich es nett meinte. Gemeinsam traten wir in den Speisesaal, in dem schon reges Treiben herrschte. Wir stellten uns zusammen in die Essensausgabe und warteten darauf, dass die Schlange aufrückte. Nach einer halben Ewigkeit hatten wir beide unser Essen und konnten bezahlen. July bot mir an mit ihr zu sitzen und ich nahm dankend an. Woanders konnte ich auch nicht wirklich hin.
Während July mich durch die vielen Tische führte erspähte ich den Jungen von heute Morgen. Er hatte seine Sportsachen gegen gewöhnliche Jeans und ein schwarzes T-Shirt eingetauscht. Beides stand ihm wirklich hervorragend und betonte seine Muskeln. Als er meinen Blick auffing, grinste er und zwinkerte mir zu. Ich wich seinem Blick aus, da ich spürte wie meine Wangen rot wurden und beeilte mich July hinterher zu kommen. Schließlich kamen wir an einem Tisch an, an dem schon ein weiteres Mädchen saß gemeinsam mit Mike und Jayden.
"Hey, ist doch okay, das Rose bei uns sitzt, oder?", fragte July und ließ sich neben das Mädchen fallen.
"Komm in unsere Mitte, Rosie", freute sich Jayden.
Ich funkelte ihn böse an und er korrigierte schnell meinen Namen. Lächelnd nahm ich den Platz zwischen den beiden Jungen an. Komischerweise kam es mir wie früher vor. Da saß ich zwar nicht zwischen Mike und Jayden, aber die Atmosphäre war ähnlich gewesen. Ich erinnerte mich an unsere alte Sitzgruppe, als Mike mich aus meinen Gedanken riss.
"Rose? Kennst du Clara?", fragte Mike und deutete auf das Mädchen mir gegenüber.
Clara war also ihr Name. Clara hatte schwarzes Haar, das kerzengerade ihren Rücken hinab floss Sie hatte eine sehr braune Haut. Vielleicht Spanierin? Portugiesin? So in der Richtung, schätze ich mal. Sie hatte dunkle Augen und war wirklich hübsch. Herzförmiges Gesicht, nicht besonders groß. Bei letzterem war ich mir aber nicht ganz sicher, da sie saß.
"Nein, freut mich dich kennen zu lernen. Ich bin Rose."
Es war eigentlich unnötig meinen Namen erneut zu nennen, aber ich empfand es als Akt der Höflichkeit. Clara lächelte und schüttelte mir die Hand.
"Clara. Ebenso."
"Na dann erzähl mal, Rose. Wie ist es so da draußen? Fern von der Akademie?", fragte Jayden und biss genüsslich in sein Sandwich.
"Anders", gab ich schulterzuckend wieder und sah betrübt auf mein eigenes Essen.
"Komm schon, Rose", quengelte Mike. "Du weißt, dass es niemanden gibt, der die Akademie verlässt und wiederkommt. Wir alle leben hier seit frühester Kindheit, so wie du eigentlich. Wir haben nie in der Zivilisation gelebt. Also, spuck's schon aus."
Ich atmete zitternd ein. Die Wahrheit durften sie nicht kennen. Niemals. Schnell versuchte ich mir etwas anderes einfallen zu lassen.
"Naja, es ist anders", sprach ich gedehnt, während ich noch nachdachte. "Ganz anderer Tagesablauf. Der Unterricht ist natürlich anders, die Lehrer, auch das Essen."
Ich durchforstete mein Hirn nach mehr Erklärung. 
"Es ist alles wesentlich entspannter und lockerer, aber auch schlampiger und unorganisierter", endete ich und sah in die Runde.
Sie nahmen es mir ab.
"Fazit: Dir gefällt's hier oder dort besser?", fragte Mike.
Hier, war meine automatische Antwort, aber ich sprach sie nicht aus. Zum Einen, weil sie sofort gefragt hätten, wieso genau. Zum Anderen weil ich meine Freunde vermisste. Und ginge es nur um meine Freunde, würde ich die Vier von dort sofort wieder haben wollen!
Ich antwortete also nicht und blieb stattdessen still. Die Konversation wurde den Rest des Mittagessens von den übrigen Vieren am Tisch betrieben. Ich hielt mich raus und lauschte dem neuesten Tratsch. Ich hatte anscheinend wirklich viel verpasst. Alte Lehrer verlobten sich, alte Lehrer gingen, neue Lehrer kamen. Schulikonen wurden gestürzt, Außenseiter wurden beliebt. Irgendwo war diese Akademie eben doch eine ganz gewöhnliche Schule. Obwohl der Unterricht nirgends so war wie hier.
Viel zu früh klingelte es erneut zum nächsten Unterricht.
"Was hast du jetzt?", fragte mich Mike.
"Englisch II."
Mike wirkte enttäuscht, offensichtlich hatte er auf eine weitere, gemeinsame Stunde gehofft. Dafür strahlte Jayden.
"Na dann los, sonst kommen wir zu spät."
Wieder schlang er einen Arm um meine Schultern, wie in alten Zeiten, und wir gingen zu unserem Unterricht. Ich versuchte ein ums andere Mal seinem Arm zu entfliehen, aber er überging meine Versuche und klammerte sich an mich. Damit stellte ich meine Versuche ein, denn eigentlich war es ganz praktisch. Seine Hand überdeckte meinen blauen Fleck auf der Schulter. Je länger sein Arm auf meinen Schultern ruhte, desto mehr gewöhnt ich mich daran. Es war wirklich wie früher. Ich dachte an die Zeit, zu der ich hier gelebt hatte. An die Zeit, in der meine Eltern noch lebten, in der ich glücklich war und mir niemand etwas anhaben konnte. In der ich keine Angst hatte, vor nichts und niemanden und ich wusste, dass ich beschützt wurde.
Der Klassenraum war ziemlich weit entfernt und man musste fast einmal durch das ganze Gebäude, aber dafür hatte ich ja Jayden um mich abzulenken. Er erzählte gerade von seiner letzten Englischstunde, in der er einem anderen Schüler ein blaues Auge verpasst hatte. Und dann sah ich sie. Dort stand sie, schön wie eh und je. Sie hatte sich kaum verändert. Sie sah aus wie früher, aber reifer, erwachsener, natürlich größer. Sie hatte mich bisher nicht bemerkt. Ein paar Mädchen standen um sie herum und die unterhielten sich mit ihr. Immer noch mochten sie alle, wie früher. Stocksteif blieb ich mitten im Schritt stehen. Jayden ging unvermittelt weiter und sah sich dann fragend zu mir um, aber ich starrte weiterhin zu ihr und beachtete Jayden nicht. Er folgte meinem Blick und sah warum ich so festgefroren war. Die Mädchen um sie herum erspähten mich nun auch. Sie zeigten auf mich und sie drehte sich um. Wie erstarrt blieb auch sie stehen. Ihre Kinnlade klappte runter, in ihren Augen sammelten sich Tränen. Voller Schock sah sie mich an, als könne sie nicht fassen, dass ich hier war. Ihre Augen entdeckten sofort den blauen Fleck, starrten aber dann wieder in meine Augen.
Sie brach als Erste aus ihrer Starre wieder raus. Ihre Tränen rannen ihr über die Wangen. Schnell drehte sie sich um und rannte den Gang hinunter. Ihre Freundinnen setzten sich ebenfalls schnell in Bewegung, um sie einzuholen, aber sie war schon weg. Emely. 

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